Cannabis Ruderalis

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Diplomarbeit
Titel der Diplomarbeit
Asylpolitik in Frankreich
Verfasserin
Silvia-Maria Wieser
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag. phil.)
Wien, im August 2010
Studienkennzahl lt. Studienblatt:
A 300
Matrikel-Nr.:
0516265
Studienrichtung lt. Studienblatt:
Politikwissenschaft
Betreuer:
Univ.-Doz. Dr. Hannes Wimmer
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INHALTSVERZEICHNIS
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ANHANG
Grafik 1: Organigramm des Ministeriums für Immigration, Integration, nationale Identität
und Ko-Entwicklung ......................................................................................................... 176
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Abkürzungsverzeichnis
CADA
Centre d'accueil de demandeurs d'asile
CESEDA
Code de l’Entrée et du Séjour des Étrangers et du Droit d’Asile
CIMADE
Comité Inter-Mouvements Auprès Des Evacués
CNDA
Cour national du droit d’asile
CRR
Commission des recours des réfugiés
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
EU
Europäische Union
MDC
Mouvement des citoyens
NGO
Non-Governmental Organisation
OECD
Organization for Economic Cooperation and Development
OFPRA
Office Français pour la Protection des Réfugiés et Apatrides
PS
Parti Socialiste
RESF
Réseau Éducation Sans Frontières
RPR
Rassemblement pour la République
UDF
Union pour la Démocratie Française
UMP
Union pour un Mouvement Populaire
UN
United Nations
UNHCR
United Nations High Commissioner for Refugees
Französische Begriffe
Asile territoriale
Vorrübergehender Schutz für Flüchtlinge (1998 durch subsidiären
Schutz ersetzt)
Circulaire
Runderlass
Conseil Constitutionnel
Verfassungsrat
Conseil d’État
Staatsrat
Extrême Droite
Extreme Rechte, Äußerste Rechte
Immigration choisie
Gewählte Einwanderung
Loi
Gesetz
Procédure prioritaire
Verkürtztes Verfahren
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1. Einleitung
1.1 Erkenntnisinteresse
Das Thema der vorliegenden Diplomarbeit, die Spezifika der französischen
Asylpolitik seit den 1980er Jahren, ergab sich während meines Aufenthalts in
Frankreich, als ich in Straßburg für eine NGO im Migrationsbereich tätig war.
Bereits zuvor hegte ich großes Interesse für Asylpolitik, ist dies doch ein Thema,
welches in den letzten Jahren europaweit immer stärker öffentlich debattiert
wurde. Die französische Asylpolitik schien mir einige Besonderheiten aufzuweisen,
aufgrund derer ich es Wert fand, der Thematik näher nachzugehen: so etwa die
lange Tradition Frankreichs als Aufnahmeland für Asylsuchende, welche durch
restriktive Maßnahmen und Gesetze im Bereich immer mehr verloren zu gehen
scheint. Die Tatsache, dass Frankreich dennoch das stärkste Anfrageland
Europas darstellt und, nicht zuletzt, der relativ starke Einfluss nicht-staatlicher
AkteurInnen auf die französische Asylpolitik.
Der Fokus dieser Arbeit soll demnach auf einer umfassenden Analyse der
Entwicklung der französischen Asylpolitik und deren Ursachen liegen. Dabei
müssen, um die zentrale Frage nach den Spezifika der (restriktiven) Entwicklung
der französischen Asylpolitik umfassend erläutern und adäquat beantworten zu
können, folgende weitere Fragen gestellt werden:
Wie sieht der (internationale, europäische) Kontext aus, in welchem sich die
französische Asylpolitik entwickelte?
Wann kann eine Wende hin zu einer restriktiven Asylpolitik erkannt werden und
was macht diese Wende aus?
Welche Konsequenzen haben die jeweiligen asylpolitischen Maßnahmen für das
französische Asylsystem und die AsylwerberInnen?
Wie lässt sich das Verhältnis von französischer zu europäischer Asylpolitik
erklären (ist Frankreich ein Spezialfall)?
Wer sind die HauptakteurInnen der französischen Asylpolitik und auf welche
Weise beeinflussen sie diese?
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Da der Wechsel hin zu einem restriktiveren Kurs in der französischen Asylpolitik
oft mit Mitte/Ende der 1980er Jahre festgemacht wird, da dieser an den
erstmaligen Erfolgen der FN und dem konservativen Regierungswechsel (RPR)
1988 geknüpft wäre, soll im Hauptteil dieser Arbeit (Kapitel 3) die Asylpolitik
zeitlich ab Beginn der 1980er dargestellt werden, um den Wechsel von der Links-
zur Rechtsregierung in die Analyse mit einzubeziehen und die Bedeutung des
Regierungswechsels hinsichtlich asylpolitischer Maßnahmen betrachten zu
können.
1.2 Überblick über die Arbeit
Das Einstiegskapitel, Kapitel 2, wird sich mit der Darstellung und Diskussion der
Grundlagen des internationalen und europäischen Kontexts in Sachen Asylrecht,
der die französische Asylpolitik mitbestimmt, beschäftigen. Ebenso werden
Grundlagen des französischen Asylrechts dargestellt. Dieses Kapitel dient zur
Klärung der Rahmenbedingungen der französischen Asylpolitik.
Kapitel 3, zur Entwicklung der französischen Asylpolitik ab Ende der 1980er Jahre
und zur Zuspitzung des französischen Asylregimes, ist gewissermaßen das
Kernstück der Diplomarbeit. Vorerst werden die (Asyl-)Migration nach Frankreich
beschrieben und die Flüchtlingsanerkennungsraten dargestellt und besprochen,
um anschließend einzelne asylpolitische Maßnahmen und Gesetzesreformen nicht
nur in einem politisch-rechtlichen Kontext, aber auch vor einem Hintergrund
migrationstechnischer und sozio-demographischer Tendenzen diskutieren zu
können. Danach wird die Frage geklärt, inwieweit die europäische Asylpolitik die
Französische beeinflusst und umgekehrt. Zuletzt soll die Rolle nicht-staatlicher
AkteurInnen, deren Einflussmöglichkeiten und Grenzen in Hinblick auf die
französische Asylpolitik analysiert werden.
Mit Kapitel 4 wird mittels eines theoretischen Exkurses versucht, die Spezifika der
französischen Asylpolitik und -gesetzgebung zu erklären. Dabei werden drei
unterschiedliche theoretische Werke – Historische Soziologie (Paul Pierson:
Politics in time), (Post-)Strukturalismus (Michel Foucault: Il faut défendre la
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société) und Nouvelle Droite (Alain de Benoist: Manifest. Die Nouvelle Droite des
Jahres 2000) – verwendet, um diversifizierte Erläuterungen und Blickwinkel zu
erhalten.
In der Conclusio werden die zentralen Erkenntnisse der Diplomarbeit nochmals
zusammenfassend dargestellt. Zudem wird ein knapper Ausblick zur Thematik der
französischen Asylpolitik gegeben: dabei sollen Konsequenzen, Tendenzen und
Alternativen aufgezeigt werden.
1.3 Begriffsbestimmung
Asyl, AsylwerberIn
Der Begriff Asyl – vom griechischen Wort „asylos“ (unberaubt, sicher) –
bezeichnet ursprünglich einen unverletzlichen Ort, an welchem der/die
Zufluchtssuchende vor jeglichem Zugriff sicher ist (Pfeifer 2005: 68). Ein/e
AsylwerberIn ist folglich eine Person, die in einem fremden Staat um Schutz
(Asyl) ansucht. AsylwerberIn bleibt eine Person solange, bis das
Asylverfahren abgeschlossen ist. Wird dieses positiv abgeschlossen,
handelt es sich bei jener Person um einen anerkannten Flüchtling bzw.
um eine/n Asylberechtigte/n (vgl. Schumacher/Peyrl 2007: 161-167).1
Asylrecht, Asylgesetzgebung, Asylpolitik
Unter Asylrecht werden alle gesetzlichen Normen verstanden, die den Bereich
Asyl klären. Asylpolitik ist die Politik, die durch Strukturen und Interessen, sowie
durch Problembestimmungen und Problemlösungsversuche geprägt ist und
versucht, den Bereich Asyl durch Maßnahmen, Normen, Richtlinien und Gesetze
(Asylgesetzgebung) zu formen und zu regeln. Der Begriff (Asyl-)Politik umfasst in
dieser Diplomarbeit folglich die drei Bereiche politische Inhalte (policy), politische
Prozesse (politics) und politische Strukturen (polity) (vgl. Patzelt 2003: 29f.).
1 Zum Flüchtlingsbegriff der GFK und dessen Bedeutung siehe Kapitel 2.1.1 Flüchtlingsbegriff der
GFK
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AusländerIn (Fremde/r)
Der Begriff AusländerIn (Fremde/r) wird in dieser Arbeit rein in Bezug auf den
rechtlichen Status dieser angewendet. In einem erweiterten Blickfeld ist dieser
Begriff unzureichend, da er eingebürgerte Personen nicht umfasst, sowie
gewissermaßen eine Nicht-Zugehörigkeit impliziert, welche für Personen mit
längerem Aufenthalt im Staat nicht passend ist. In einem solchen umfassenderen
Hinblick wird der Begriff MigrantIn verwendet, während der Begriff AusländerIn
hier nur rechtlich zu verstehen ist. (Kreft/Mielenz 2008: 119)
Sans-papiers
Der Begriff sans-papiers bezeichnet übersetzt eine Person ohne „Papiere“, also
eine Person, die sich ohne Aufenthaltsrecht in einem (fremden) Staat befindet. Ab
Mitte der 1990er Jahre fand dieser Begriff erstmals Einzug in den öffentlichen
Diskurs, als in Frankreich zur Zeit der Gesetzesänderungen durch Charles
Pasqua2 in den Medien vornehmlich die irreguläre Immigration debattiert wurde.
Pro-Regularisierungs- und MigrantInnenbewegungen setzten sich damals für die
Einführung des Begriffs sans-papiers, anstelle des negativ konnotierten Begriffs
clandestin ein. (Laubenthal 2006: 93f.) Der Begriff sans-papiers ist also nicht mit
jenem des/der AsylwerberIn zu verwechseln, kann allerdings auch ehemalige
AsylwerberInnen (ohne Aufenthaltsrecht im jeweiligen Staat) umfassen.
1.4 Methodik
1.4.1 Literaturrecherche
Um den Kontext und die Entwicklung der französischen Asylpolitik und –
gesetzgebung adäquat verstehen, erörtern und diskutieren zu können, stütze ich
mich in vorliegender Diplomarbeit hauptsächlich auf vorhandene Literatur zur
französischen, sowie europäischen, Einwanderungs- und Asylpolitik, wobei
versucht wird signifikante Merkmale (Spezifika) und Tendenzen herauszufiltern.
Dabei werden sozial- und politikwissenschaftliche, sowie auch
2 Hierzu mehr in Kapitel 3.2.5 Loi Pasqua und Verfassungsänderung (1993)
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geschichtswissenschaftliche Quellen herangezogen. Daneben verwende ich
zudem Gesetzestexte des französischen und europäischen Asylrechts, Quellen
der offiziellen französischen Institutionen im Asylbereich, sowie Texte und Berichte
von NGOs. Teils waren jedoch auch journalistische Texte, zumeist französischer
Zeitungen und Zeitschriften, hilfreich, um bestimmte Tatbestände näher
auszuleuchten und Umstände und Positionierungen rund um einzelne politische
Maßnahmen im französischen Asylwesen genauer darzustellen.
Zur Erstellung des vierten Kapitels, dienten primär drei unterschiedliche
theoretische Werke der Autoren Paul Pierson (Politics in Time), Michel Foucault (Il
faut défendre la société) und Alain de Benoist (Manifest. Die Nouvelle Droite des
Jahres 2000).3
Wurden Originalzitate (von französischen PolitikerInnen, AsylrechtsvertrerInnen)
auf Französisch angegeben, so wurden stets diese verwendet. In solchen Fällen,
sowie im Fall direkter Zitate, die in der Diplomarbeit auf Französisch angeführt
wurden, wurde jeweils eine Fußnote mit einer Übersetzung auf Deutsch
angebracht. Dabei wurde darauf geachtet, die jeweilige Textpassage sinngemäß
bestmöglich zu übersetzen.
Im Zuge der Diplomarbeit wurde ferner ein ExpertInneninterview mit einer
Vertreterin der französischen Asylrechts-NGO CASAS durchgeführt, welches als
weitere Quelle diente.
1.4.2 ExpertInneninterview
Entscheidung zum ExpertInneninterview
Die Entscheidung ein ExpertInneninterview zu führen traf ich bereits zu Beginn der
Diplomarbeit. Bei der Festlegung des Erkenntnisinteresses, der Ausarbeitung des
Inhaltsverzeichnisses, sowie der ersten Literaturrecherche wurde mir klar, dass
3 Nähere Angaben zu jenen Werken und zur Auswahl der und Vorgehensweise mit diesen drei
theoretischen Ansätzen befinden sich in Kapitel 4. Exkurs: Versuch zur Erklärung der
französischen Asylpolitik und ihrer Spezifika aus drei theoretischen Perspektiven.
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ein ExpertInneninterview mit einem/r VertreterIn aus dem französischen
Asylrechtsbereich die Erkenntnisse meiner Diplomarbeit stützen und auch
ergänzen könnte.
Die Bedeutung der Asyl(rechts)-NGOs in Frankreich liegt nicht nur in der (Mit-
)Gestaltung der sozialen Praxis und der Bewusstseinsarbeit. Auch zahlreiche
Publikationen zum Thema französische Asylpolitik und –praxis dienen der
Verbreitung von Wissen in diesem Feld. Dementsprechend beschloss ich, eben
dieses ExpertInnenwissen für die Diplomarbeit zu nutzen. Die Entscheidung über
den/die ExpertIn fiel auf Simone Fluhr aus der Asylrechts-NGO CASAS in
Straßburg. Da ich im Sommer 2009 selbst in einer NGO im Migrationsbereich tätig
war und dort Kontakte knüpfen konnte, wurde mir diese als „Urgestein im
französischen Asylbereich“ empfohlen. Die vom Interview gewonnenen und
folglich analysierten Informationen sollen in das Kernkapitel (3) Die Entwicklung
der französischen Asylpolitik ab Ende der 1980er Jahre – Zuspitzung des
Asylrechts einfließen.
Vorgehensweise
Grundsätzlich lassen sich, bezogen auf die Art der Befragung und der zu
gewinnenden Informationen, zwei Formen von Befragungsmethoden voneinander
unterscheiden: Umfrage und ExpertInnenbefragung. Während die Umfrage auf
persönliche Meinung, Wertung, Wissen oder auch Erinnerungen abzielt, sind die
zu erreichenden Informationen eines ExpertInneninterviews solche über einen
bestimmten Gegenstandsbereich. Wer ExpertIn ist, ist vor allem von den zu
erreichenden Informationen abhängig. (Patzelt 2003: 155) Für diese Diplomarbeit
werden dementsprechend Informationen über den Gegenstandsbereich der
französischen Asylpolitik gesucht, weshalb die Methode des
ExpertInneninterviews zielführend ist. Die ExpertInnenbefragung zeigte sich somit
als geeignetes Mittel zum Zweck in Hinblick auf die (erweiterte) Klärung der
zentralen Forschungsfrage der Diplomarbeit: Wie lassen sich die Spezifika der
(restriktiven) Entwicklung der französischen Asylpolitik erklären?
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Für die Identifikation von ExpertInnen verwende ich die Begriffsbestimmung von
Meuser und Nagel, nach welcher der ExpertInnenbegriff an „die Funktion, die eine
Person innerhalb eines Sozialsystems erfüllt, gebunden ist und nicht an
Bedingungen formaler Qualifikation oder an eine offizielle Position“ (Meuser/Nagel
1994: 180). Nach Meuser und Nagel sind ExpertInnen folglich Angehörige einer
Funktionselite und erstellen ihre Expertise demzufolge nicht von außen, sondern
sie stellen einen Bestandteil des untersuchten Handlungsfeldes dar. ExpertInnen
besitzen spezialisiertes Sonderwissen, welches aus ihrer Praxis resultiert. Des
Weiteren ist dieses Wissen, entsprechend Meuser und Nagel, ein
„überindividuelles, handlungs- bzw. funktionsbereichspezifisches“ Wissen (ebd.:
183), welches zwischen praktischem und diskursivem Bewusstsein (so die
Giddensche Unterscheidung) zu verorten ist. Da dieses Wissen vom Interviewer
aufgedeckt und interpretativ rekonstruiert werden muss, empfehlen Meuser und
Nagel, aufgrund eines sich am ExpertInnenwissen orientierten
Erkenntnisinteresses, die Anwendung eines offenen (halbstrukturierten)
Leitfadeninterviews. (vgl. ebd.: 181ff.)
Ferner empfiehlt sich, Gläser und Laudel zufolge, ein Leitfadeninterview (also die
Erstellung einer Liste offener Fragen) dann, wenn durch das Ziel der Befragung
mehrere Themen untersucht werden müssen und/oder wenn in der Befragung
auch einzelne, spezifische Informationen gewonnen werden sollen (Gläser/Laudel
2009: 111). Dieser Konzeption entsprechend stellt ein halbstrukturiertes Interview
für diese Diplomarbeit das bestmögliche Mittel zur gewünschten
Informationsgewinnung dar. Im Gegensatz zum vollstrukturierten Interview, bei
dem die Fragen und deren Abfolge wörtlich fixiert sind, wird das halbstrukturierte
Interview mit einem Leitfaden geführt, wobei sich der Interviewer indes bemüht,
relativ flexibel auf den Befragten einzugehen, d.h. im Falle weiter nachzufragen
oder gegebenenfalls zu improvisieren (Patzelt 2003: 156).
Der Interviewleitfaden des ExpertInneninterviews wurde dementsprechend zeitlich
nach dem Verfassen des Kernkapitels (Kapitel 3) erstellt und sollte dieses
thematisch umfassend abdecken. Der Leitfaden zielt darauf ab, einzelne
Argumentationslinien der Diplomarbeit weiter ausleuchten zu können.
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Das geführte leitfadenorientierte ExpertInneninterview wurde mit der Methodik der
qualitativen Inhaltsanalyse verarbeitet und verwendet. Die qualitative
Inhaltsanalyse basiert prinzipiell auf einer mehr oder weniger subjektiven
Bewertung des zu untersuchenden Inhalts. Mayring unterscheidet grundsätzlich
vier Arten der qualitativen Inhaltsanalyse:
• die zusammenfassende Inhaltsanalyse, wobei der Inhalt des Interviews zu
einem Kurztext resümiert wird;
• die induktive Kategorienbildung, wobei Kategorien erstellt werden, um die
Inhalte des Interviews zu subsummieren;
• die explizierende Inhaltsanalyse, bei welcher versucht wird, die Inhalte
bestmöglich wiederzugeben (eventuell auch unter Heranziehung von
anderem Material);
• die strukturierende Inhaltsanalyse, bei der Kriterien zur Analyse erstellt
werden, um bestimmte Aspekte besonders hervorheben zu können;
(Ebster/Stalzer 2008: 204)
Für die Diplomarbeit habe ich mich folglich für die Verwendung von Kategorien zur
Auswertung des leitfadenorientierten ExpertInneninterviews entschieden.
Gläser und Laudel erweitern bei der Aufstellung von Kategorien zur Auswertung
des Interviews den Ansatz von Mayring, indem sie die erstellten Kategorien
flexibler gestalten. Dementsprechend wird zuvor ein Suchraster mit Kategorien
kreiert, welches an theoretische Vorüberlegungen geknüpft ist. Anschließend
findet die Extraktion der als signifikant betrachteten Textstellen und deren
Zuordnung in die Kategorien statt, was folglich die Strukturierung der Inhalte und
deren Auswertung in Hinblick auf die Forschungsfrage ermöglicht. Bei der
Extraktion der Informationen findet seitens des Untersuchenden eine Interpretation
statt, bei der entschieden wird, welche Daten als signifikant zu bewerten sind und
welche nicht. Sollten relevante Informationen außerhalb der Kategorien
auftauchen, können diese im Falle – entsprechend Gläser und Laudel – auch
erweitert und mit einbezogen werden. (Gläser/Laudel 2009: 197-204)
Die für die Diplomarbeit als bedeutend gewerteten und erstellten Kategorien zur
Auswertung des leitfadenorientierten ExpertInneninterviews waren:
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• Gesetzliche und institutionelle Bedingungen, sowie deren Auswirkungen
• Politische und administrative Strukturen, sowie Alternativen
• Zeitliche (historische) Rahmenbedingungen bzw. Wendepunkte
• Gesellschaftspolitische Akteure, deren Beziehungen, sowie deren
(Einfluss-)Möglichkeiten
Da das Interview auf Französisch geführt wurde, werden auch hier – wie generell
bei französischen direkten Zitaten in der Diplomarbeit – jeweils Fußnoten
angebracht, in welchen die jeweiligen Textteile sinngemäß bestmöglich übersetzt
werden.
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2. Grundlagen des Internationalen, Europäischen und
Französischen Asylrechts
Einführend sollen hier die Grundlagen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)
und das diesbezügliche Zusatzprotokoll dargestellt und besprochen werden. Vor
allem wegen der Übernahme des Flüchtlingsbegriffs der GFK auf EU-Ebene und
in das französische Asylrecht, ist dieser von Bedeutung und soll deshalb in Folge
näher betrachtet werden. Ebenso stellen diverse EU-Richtlinien und Programme
im Asylbereich eine wichtige Voraussetzung dar, um später spezifische
Entwicklungen der französischen Asylpolitik zu verstehen. Die am Ende dieses
Kapitels erörterten französischen Rechtsgrundlagen beschreiben noch nicht die
Evolution der französischen Asylgesetzgebung (dies soll erst im Folgekapitel
untersucht werden), sondern geben einen Überblick über zentrale Institutionen
des französischen Asylrechts.
2.1 Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll von 1967
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) entstand im Rahmen der 1946, als
Reaktion der Flüchtlingsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz
Europa, gegründeten Internationalen Flüchtlingsorganisation (Vorläufer des
UNHCR). Am 28. Juli 1951 wurde deren Aufgabe, einen völkerrechtlichen Vertrag
betreffend die Rechtstellung von Flüchtlingen anzufertigen, schließlich mit der von
den Staatenvertretern unterzeichneten GFK – welche am 22. April 1954,
entsprechend Art. 43 GFK am neunzigsten Tag nach der Hinterlegung der
sechsten Ratifikationsrunde, in Kraft trat (Amann 1994, 42) – erfüllt. In der
Konvention wird seither festgelegt, wer als Flüchtling gilt, welche Rechte und
welche Pflichten diesem/r im Zufluchtsland zustehen. (Schumacher/Peyrl 2007:
163) In Frankreich wurden die Bestimmungen der GFK mit der Etablierung eines
eigenen Gesetzes, dem Loi n°52-893 du 25 juillet 1952 relative au droit d'asile,
angenommen (Loi n°52-893 1952: Art. 2).
Da sich die GFK zu Beginn nur auf geographisch und zeitlich eingeschränkte
Personengruppen bezog, nämlich hauptsächlich auf europäische Flüchtlinge, die
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aufgrund der Ereignisse vor dem 1. Januar 1951 geflüchtet waren, war die
Reichweite der GFK, aufgrund des Auftauchens neuer Flüchtlingsgruppen, nicht
mehr ausreichend (UNHCR 2007: 6). So scheiterte sie beispielsweise in Hinblick
auf jene kommunistischen Länder, in welchen die Machtergreifung nach dem 1.
Januar 1951 stattfand, wie etwa in Kuba. Ebenso konnten Flüchtlinge in Afrika und
Asien wegen der räumlichen und zeitlichen Beschränkung der GFK nicht von
dieser erfasst werden. (Amann 1994: 48) Folglich wurde ein zusätzliches
Protokoll erarbeitet, welches der Generalversammlung der UN 1966 vorgelegt und
schließlich durch diese sowie durch den UN-Generalsekretär am 31. Januar 1967
unterzeichnet wurde. Nachdem es den Regierungen zum Beitritt vorgelegt wurde,
trat das Protokoll am 4. Oktober 1967 in Kraft. (UNHCR 2007: 6)
2.1.1 Flüchtlingsbegriff der GFK
Der Flüchtlingsbegriff laut GFK wurde am 28. Juli 1951 mit der Verabschiedung
des „Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, so der eigentliche Titel
der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), des Völkerbundes festgelegt und später
durch das Protokoll von 1967 erweitert (UNHCR 2006: o.S.).
Die Voraussetzungen, um als Flüchtling zu gelten, sind dementsprechend in der
GFK Art. 1 Abs. 2 geregelt. Ein Flüchtling ist demnach eine Person:
[…] die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind,
und aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion,
Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen
ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen
Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in
Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch
nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb
des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen
nicht dorthin zurückkehren will. […] (GFK 1951: Art. 1 A Abs. 2)
Werden die in der GFK genannten Voraussetzungen erfüllt, gilt die entsprechende
Person als Flüchtling, dem die in der Konvention genannten Rechte zustehen. Die
Flüchtlingseigenschaft besteht folglich bereits vor einer formalen staatlichen
Anerkennung. Ein innerstaatliches Asylverfahren dient daher nur dem Zweck, mit
einem Bescheid festzulegen, ob die oben genannten Kriterien auf die jeweilige
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Person zutreffen und ob dieser Asyl gewährt werden muss. (Schumacher / Peyrl
2007: 166)
Da der Flüchtlingsbegriff nach der GFK relativ offen und komplex ist, wurde dieser
durch Richtlinien und Empfehlungen des UNHCR, sowie durch die
Rechtsprechung von Asylbehörden weiter konkretisiert. Des Weiteren gilt das
Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft – vom UNHCR 1979 veröffentlicht – als bedeutende Stütze
zur Auslegung des Flüchtlingsbegriffs. Obwohl die Richtlinien und Empfehlungen
keine rechtliche Verbindlichkeit besitzen, sollten diese für die innerstaatliche
Rechtsanwendung als wichtige Interpretations- und Orientierungshilfen betrachtet
werden. (ebd.: 167)
Im Folgenden sollen nun die einzelnen Voraussetzungen des oben zitierten
Flüchtlingsbegriffs näher erörtert werden.
2.1.2 Wohlbegründete Furcht
Das Element der wohlbegründeten Furcht des Flüchtlingsbegriffs laut GFK
bedeutet, dass die Furcht vor Verfolgung genügend sein kann, um einem
Flüchtling Schutz zu gewähren. Demnach ist prinzipiell die Gefahr von
Verfolgungsmaßnahmen ausreichend und sowohl bezogen auf Vorflucht- wie auch
auf Nachfluchtgründe von Bedeutung. Das Eintreten von konkreten
Verfolgungshandlungen ist demnach nicht Vorraussetzung für die Flucht, genauso
wenig wie das Zurückkehren in den Herkunftsstaat, wo Verfolgungsmaßnahmen
herrschen. (Amann 1994: 62f) Der Begriff der wohlbegründeten Furcht setzt sich
aus einem objektiven als auch aus einem subjektiven Element zusammen. Daher
ist es zur Bewertung der Lage nicht nur von Bedeutung, ob sich eine Person in
einer bestimmten Situation fürchtet, sondern ebenso ob sich eine durchschnittlich
vernünftige Person in jener Situation auch fürchten würde. (Schumacher/Peyrl
2007: 168)
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2.1.3 Verfolgung und Verfolgungsmotive
Das Element der Verfolgung stellt einen zentralen Punkt des Flüchtlingsbegriffs
der GFK dar. Trotz dieser Tatsache, besteht keine eindeutige Festlegung auf den
Begriff – so im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der
Flüchtlingseigenschaft der UNHCR, in welchem vordergründig auf die in der GFK
genannten Verfolgungsmotive genannt werden:
Es gibt keine allgemein gültige Definition des Begriffs „Verfolgung“;
verschiedene Bemühungen um eine Definition des Begriffs „Verfolgung“ waren
wenig erfolgreich. Aus Artikel 33 des Abkommens von 1951 lässt sich
jedenfalls ableiten, dass eine Bedrohung des Lebens oder der Freiheit eines
Menschen wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen seiner
politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe stets eine Verfolgung darstellt. Aus denselben Gründen würden auch
andere schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte eine Verfolgung
darstellen. (UNHCR 2003: 15)
Der Verfolgungsbegriff erfordert im Allgemeinen, dass die Verfolgung eine
bestimmte Intensität erreicht hat, dass sie gegenwärtig besteht, dass sie gegen
die flüchtende Person gerichtet ist und dem jeweiligen Staat zugerechnet werden
kann (Schumacher/Peyrl 2007: 168). Allerdings kann sich Verfolgung auf
staatliches Handeln, sowie auch auf staatliches Unterlassen beziehen. Man
unterscheidet generell zwischen mittelbarer und unmittelbarer staatlicher
Verfolgung. Eine Verfolgungshandlung durch Private ist somit nicht nur im Falle
der Duldung dieser durch den Staat von Bedeutung, sondern auch wenn der Staat
zur Schutzbietung nicht imstande ist. (Amann 1994: 75)
Neben den direkt erwähnten Verfolgungsmotiven Rasse, Religion, Nationalität,
politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
sind auch so genannte kumulative Gründe bei der Würdigung der Umstände der
jeweiligen Person zu beachten:
Außerdem mag ein Antragsteller einer ganzen Reihe von Maßnahmen
ausgesetzt gewesen sein, die jede für sich genommen nicht den Tatbestand der
Verfolgung erfüllten (z.B. verschiedene Formen der Diskriminierung), zu denen
in manchen Fällen jedoch noch weitere widrige Faktoren hinzukamen (z.B. eine
allgemeine Atmosphäre der Unsicherheit in dem betreffenden Herkunftsland). In
solchen Situationen mögen diese verschiedenen Faktoren in ihrer Gesamtheit
auf den Antragsteller eine derartige Wirkung ausgeübt haben, dass das
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Vorliegen einer begründeten Furcht vor Verfolgung auf Grund „kumulativer
Gründe“ angenommen werden kann. (UNHCR 2003: 15f).
2.1.4 Aufenthalt außerhalb des Heimatlandes
Der GFK entsprechend, kann Asyl nur dann gewährt werden, wenn sich die
jeweilige Person außerhalb des Heimat- bzw. des Verfolgungslandes befindet. In
den meisten Fällen ist das Herkunftsland gleichfalls das Heimatland des
Flüchtlings. Im Falle der Staatenlosigkeit des Flüchtlings ersetzt der Staat
seines/ihres gewöhnlichen Aufenthaltes die Rolle des Heimatlandes.
(Schumacher/Peyrl 2007: 180)
Während so genannte Vorfluchtgründe Faktoren für den Ursprung der Flucht aus
dem Heimatland darstellen, sind Nachfluchtgründe solche, die erst nach dem oder
auch mit dem Verlassen des Heimatlandes des Flüchtlings in Zusammenhang
stehen. Wenn – im Sinne der Nachfluchtgründe – einem Flüchtling die Rückkehr in
dessen Heimatland aufgrund drohender Verfolgung nicht abverlangt werden kann,
so spricht man von einem „réfugié sur place“. (Amman 1994: 29f):
2.1.5 Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes im Heimatland
Das letzte Element des Flüchtlingsbegriffs, stellt der Aspekt dar, dass der
Flüchtling „den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen
dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ (GFK 1951: Art. 1 A Abs. 2),
wenn demnach die Rückkehr in das Heimatland unzumutbar ist. Sofern jedoch
Verfolgungshandlungen von dritter Seite ausgehen, werden diese nur dann dem
Staat zugerechnet, wenn er den Verfolgten nicht ausreichend Schutz gewähren
kann oder will. (Schumacher/Peyrl 2007: 180)
Dass der Flüchtling den Schutz seines Heimatlandes nicht in Anspruch nehmen
kann, impliziert, dass der Bruch der Beziehung zum Land vom Verfolgerstaat
ausgeht. Währenddessen geht der Bruch von Seiten des Flüchtlings aus, wenn
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dieser den Schutz seines Heimatlandes nicht in Anspruch nehmen will. (Amann
1994: 80) Indes ist der Wortlaut „nicht in Anspruch nehmen will“ durch den Zusatz
„wegen dieser Befürchtung“ eingeschränkt – solange es also keine begründete
Furcht gibt, den Schutz des Heimatlandes abzulehnen, wird angenommen, dass
die jeweilige Person keinen internationalen Schutz benötigt (UNHCR 2003: 26).
In Hinblick des Elements der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes
des Herkunftsstaates gibt es jedoch seit Anfang der 1990er Jahre in den
westeuropäischen Staaten eine interessante Entwicklung in deren
Asylgesetzgebung sowie -judikatur: das Institut der – in der GFK nicht enthaltenen
– innerstaatlichen Fluchtalternative. Dabei folgt man der Annahme, dass einem
Flüchtling nur dann Asyl zugesprochen werden soll, wenn dieser nicht die
Möglichkeit besitzt in einem anderen Landesteil seines Heimatlandes Schutz vor
Verfolgung zu erhalten. Innerstaatliche Fluchtalternative bedeutet, dass diese an
Bedingungen der Sicherheit und Zumutbarkeit (etwa bezogen auf den
Ortswechsel) gebunden sind. Jener Schutz kann sowohl vom Heimatstaat selbst,
aber auch von anderen Akteuren gewährt werden. (Schumacher/Peyrl 2007: 180f)
2.1.6 Ausschluss- und Beendigungsgründe
Unter Ausschlussgründen ist entsprechend der Ausschlussklauseln der GFK (Art.
1 D, E und F) zwischen drei Gruppen zu unterscheiden, welche auch wenn sie die
sonstigen Kriterien eines Flüchtlings erfüllen, nicht als Flüchtling anerkannt
werden: bei der ersten Gruppe handelt es sich um Personen, denen bereits
Schutz beziehungsweise Beistand der UN gewährt ist (Art. 1 D); die zweite
Gruppe erfasst Personen, von denen anzunehmen ist, dass sie keinen
internationalen Schutz benötigen (Art. 1 E); die dritte Gruppe umfasst
Personengruppen, von denen angenommen wird, dass sie den internationalen
Schutz nicht verdienen (Art. 1 F). (UNHCR 2003: 39) Der Ausschlussgrund unter
Art. 1 F bezieht sich folglich auf Personen, bei welchen eine gerechtfertigte
Annahme besteht:
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a) dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen
Vertragswerke begangen haben, die ausgearbeitet worden sind, um
Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen;
b) dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des
Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen
wurden;
c) dass sie sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und
Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen. (GFK 1951: Art. 1 F)
Ob die Flüchtlingseigenschaft anerkannt wird, oder ob einer dieser
Ausschlussgründe des Art. 1 F vorliegt, fällt in die Entscheidungsgewalt des
jeweiligen Zufluchtsstaates. Ein formeller Beweis dafür, dass eine frühere
Strafverfolgung vorliegt, wird nicht gefordert. Allerdings verweist der UNHCR
darauf, die Ausschlussklauseln – angesichts möglicher schwerwiegender Folgen
bei Ausschluss – nicht restriktiv anzuwenden. (UNHCR 2003: 41f) Außerdem
schließt in Bezug auf Art. 5 der GFK (Günstigkeitsklausel) andere Rechte
beziehungsweise Verpflichtungen aus sonstigen internationalen Verträgen, etwa
den Refoulementschutz auf Basis der EMRK oder der Anti-Folterkonvention der
UN nicht aus (Brandstötter 2005: 33).
Dahingegen treten Endigungsgründe laut GFK – gemäß Art. 1 C – ein, wenn die
Verfolgungsgefahr im Heimatland des Flüchtlings weggefallen ist, oder wenn sich
der Flüchtling wieder unter dem Schutz des Heimatlandes befindet
(Schumacher/Peyrl 2007: 181). Diese Endigungsgründe treten demgemäß ein,
wenn:
1.) sich die Person freiwillig erneut unter den Schutz des Landes seiner
Staatszugehörigkeit gestellt hat;
2.) die Person nach dem Verlust der Staatsangehörigkeit diese freiwillig
wiedererhalten hat;
3.) die Person eine neue Staatsangehörigkeit erlang hat und den Schutz
dieses Staates genießt;
4.) sich die Person freiwillig in dem Land niederlässt, welches sie zuvor aus
Furcht vor Verfolgung verlassen hat;
5.) die Umstände, aufgrund derer der Person die Flüchtlingseigenschaft
zuerkannt wurde, nicht mehr bestehen und sie es nicht mehr ablehnen
kann sich unter den Schutz jenes Landes zu stellen;
Seite 23
6.) es sich um eine staatenlose Person handelt und die Umstände wegfallen,
wegen derer er/sie als Flüchtling anerkannt worden ist und er/sie daher in
der Lage ist, in das Land, in dem er/sie gewöhnlichen Wohnsitz hat,
zurückkehren kann; (GFK 1951: Art. 1 C)
2.1.7 Problematik des Flüchtlingsbegriffs der GFK
Obwohl die GFK und das Zusatzprotokoll von 1967 den beigetretenen Staaten
bestimmte Verpflichtungen des Schutzes und des Umgangs mit Flüchtlingen
auferlegen, besitzt das Amt des hohen Flüchtlingskommissars der UN
diesbezüglich keine weiterreichende Macht. Der UNHCR besitzt keine
Überwachungsmechanismen und kann auch keinen Staat dazu zwingen sich an
die Verpflichtungen der Konvention zu halten. Die Verantwortung, den
Verpflichtungen konform zu handeln, liegt demgemäß bei den einzelnen Staaten,
während der UNHCR lediglich auf diplomatischen Druck und moralische
Überzeugung setzen kann. Auch haben sich nicht alle Staaten der GFK und/oder
dem Zusatzprotokoll von 1967 verpflichtet. (Chalk 1998: 157)
Die Tatsache, dass die GFK von 1951 und das Zusatzprotokoll von 1967 bis heute
die einzige formale internationale Begriffsbestimmung eines Flüchtlings
bereitstellen, bedeutet, dass es dem gleich nach dem Zweiten Weltkrieg
festgelegten Flüchtlingsbegriff an Anpassung an heutige soziale und
gesellschaftliche Anforderungen fehlt. In beiden Dokumenten liegt der Fokus eher
auf Personen die aus den festgelegten Verfolgungsgründen flüchten. (Chalk 1998:
153f) Der Flüchtlingsbegriff laut GFK und Zusatzprotokoll schließt demnach
Personen aus:
[…] who leave their country of origin to escape other conditions such as
extreme poverty, famine and general societal dislocation; these people are
regarded as economic migrants. They also exempt those who are displaced
within their own countries because of armed conflict, ethnic strife or forcible
relocation by their own governments; (ebd.: 154).
Neben der Beschränkung auf fünf Verfolgungsgründe, stellt die Problematik der
Binnenvertriebenen einen weiteren Kritikpunkt der Eingeschränktheit der GFK und
Seite 24
dessen Flüchtlingsbegriffs dar. Wie bereits erwähnt wurde, ist es notwendig, dass
der/die Asylansuchende sich außerhalb des Gebiets des Heimatlandes befinden
muss, um internationalen Schutz laut GFK erhalten zu können. Er/sie „muss“ also
ins Ausland flüchten. Allerdings leben über 25 Millionen Flüchtlinge in ihrem
Heimatland als Binnenflüchtlinge, während sich die internationale
Staatengemeinschaft aus völkerrechtlicher Sicht nicht zum Eingriff bzw. zur
Gewährung deren Schutzes verantwortlich sieht. Indes versucht der UNHCR
mehrere Millionen dieser Binnenflüchtlinge zu schützen, auch wenn er hierfür kein
eigens vorgesehenes Mandat hat. (Schumacher/Peyrl 2007: 164)
Die meisten Staaten neigen, trotz etwaiger internationaler Richtlinien, eher dazu,
den Begriff enger zu fassen und lehnen ein breiteres Verständnis und somit die
Aufnahme von vielen Flüchtlingen ab. (Chalk 1998: 154) Während seitens der
etwaigen Aufnahmestaaten für immer weniger Flüchtlinge Verantwortung
übernommen werden will, liegt die diesen gegenübergestellte Kritik an einer zu
eng gefassten Bestimmung des Flüchtlingsbegriffs der GFK und dessen häufigen
restriktiven Interpretation. Trotz dieser Spannungen, stellt jedoch vor allem die
non-refoulement-Verpflichtung der GFK das stärkste Argument für die Konvention
dar. Ohne die GFK würden die unter Druck stehenden staatlichen Politiken wohl
noch mehr überwiegen und ihren Eigeninteressen zufolge AsylwerberInnen
gegenüber (noch) restriktiver agieren. Eine Neueröffnung einer Debatte über die
Form und Ausgestaltung der GFK würde, derselben Logik entsprechend, sehr
wahrscheinlich zu einer Verminderung des bestehenden rechtlichen Schutzes
führen. (Crock 2003: 54-58)
2.2 Asylpolitik und Asylrecht auf Europäischer Ebene
Wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), gibt es auch im
europäischen Pendant, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK),
kein direktes Recht auf Asyl. Ein etwaiges Asylrecht lässt sich lediglich aus
sonstigen Bestimmungen dieser, wie etwa aus den Freiheitsrechten, ableiten. Erst
die Europäische Grundrechtscharta erwähnt wieder ein Asylrecht in Bezugnahme
auf die GFK. (Fritzsche 2004: 126f) Bemühungen auf EU-Ebene zielen auf die
Seite 25
Schaffung einer gemeinsamen Asylpolitik, diesbezüglicher Institutionen, Verfahren
und Kriterien, um Anträge zu bearbeiten und eine mögliche Anerkennung oder
auch Abschiebung der Flüchtlinge zu regeln. Dies geschieht vorübergehend auf
Basis diverser Richtlinien. (Frenz 2009: 346)
Im Folgenden soll nun die Entfaltung einer durch Übereinkommen und Programme
geprägten europäischen Asylpolitik hin zur Annahme verschiedener Richtlinien
erfolgen, da diese das in Frankreich geltenden Asylrecht maßgeblich
mitbestimmen und beeinflussen. Vor allem die fünf grundlegenden, bisher auf EU-
Ebene eingerichteten gemeinschaftlichen Richtlinien – die RL Vorübergehender
Schutz 2001/55/EG, die Aufnahme-RL 2003/9/EG, die Qualifikations-RL
2004/83/EG, die Asylverfahrens-RL 2005/85/EG und die Rückführungs-RL
2008/115/EG (Aubin 2009: 82) – führten zu einer tatsächlichen EU-weiten
Vereinheitlichung des Asylrechts4.
2.2.1 Die Schengener Übereinkommen (1985, 1990)
Das erste Schengener Übereinkommen wurde am 14. Juni 1985 ohne Beteiligung
der Gemeinschaftsorgane von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland,
Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden – den von Zuwanderung am
stärksten betroffenen Staaten (bpb 2007: o.S.) – unterzeichnet. Bei diesem
Abkommen handelte es sich um eine Bemühung der Zusammenarbeit bezüglich
des Abbaus von Personenkontrollen an den Binnengrenzen, wodurch auch
entsprechende Ausgleichsmaßnahmen, vor allem eine Verstärkung der
Außengrenzkontrollen, eine gemeinsame Visapolitik und die Verhinderung von
illegaler Einwanderung, angezielt wurden. Dem am 19. Juni 1990 unterzeichneten
Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ, auch Schengen II) traten
schlussendlich auch die übrigen EU-Staaten, bis auf Großbritannien und Irland,
bei. (Weinzierl 2005: 29f) Beide Abkommen, Schengen I und SDÜ, waren
völkerrechtliche Abkommen außerhalb des EG-Rechts, weshalb ebenso Staaten
außerhalb der EG der Beitritt möglich war. (Nuscheler 2004: 178)
4 Für die Richtlinien gilt generell, dass es sich um Mindestnormen handelt und Staaten Ansätze
wählen können, die über die RL hinaus den Schutz Asylsuchender verbessern.
Seite 26
Praktischen Einfluss hat von den beiden Übereinkommen insbesondere das SDÜ.
Bezüglich des Flüchtlingsrechtes sind dabei vor allem folgende Vorschriften
besonders gewichtig:
• Vorschriften über das Überschreiten von Außengrenzen (Art. 3-8 SDÜ)
• Gemeinsame Sichtvermerkspolitik (Art. 9-18 SDÜ)
• Bestimmungen über den freien Reiseverkehr von Drittausländern auf dem
Gebiet der Signatarstaaten, einschließlich der Abschiebungsverpflichtung
bezüglich bestimmter Drittausländer (Art. 19-24 SDÜ)
• Die Verpflichtung von Beförderungsunternehmen zur Überprüfung von
Reisedokumenten der Beförderten sowie die Einführung von Sanktionen im
Falle einer Nichtbeachtung dieser Verpflichtung (Art. 26 SDÜ)
• Die Verpflichtung zur Einführung von Sanktionen im Falle einer Beihilfe zur
illegalen Einreise zu Erwerbszwecken (Art. 27 SDÜ)
• Regelungen über den für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Staat
(Art. 28-38 SDÜ)
• Vorschriften über die Speicherung von Daten im Schengener
Informationssystem (SIS) über Drittausländer, die ausgewiesen,
zurückgewiesen oder abgeschoben wurden (Art. 96 SDÜ); (Weinzierl 2005:
34)
In den im SDÜ vorgesehenen „ergänzenden Maßnahmen zur inneren Sicherheit“
und den damit einhergehenden Restriktionen sahen bereits zu jener Zeit Kritiker
die Basis einer „europäischen Fahndungsunion“. (Nuscheler 2004: 178) So meint
auch der französische Historiker Gérard Noiriel in seinen Untersuchungen des
französischen und europäischen Asylrechts:
Dans ces conditions, on ne peut être surpris de retrouver dans la construction
de l’unité européenne les principaux ingrédients du nationalisme triomphant
de la fin du siècle dernier. La convention de Schengen signée en 1985 par
cinq pays de la CEE donne une idée de ce que sera bientôt l’Europe des
polices.5 (Noiriel 1991: 323)
5 Zu Deutsch: Unter diesen Bedingungen kann man sich nicht wundern in der Konstruktion der
Europäischen Einheit die Hauptbestandteile des triumphierenden Nationalismus des Endes des
letzten Jahrhunderts wiederzufinden. Die Konvention von Schengen, 1985 durch fünf Länder der
EWG unterzeichnet, gibt eine Idee davon, was bald ein Europa der Polizei sein wird.
Seite 27
2.2.2 Die Dubliner Übereinkommen (1990, 2003)
Insbesondere die asylrechtlichen Regelungen des Dubliner Übereinkommens von
1990, welche EU-weit Rechtskraft erlangten, sind in Bezug auf die europäische
Flüchtlings- und Asylpolitik von großer Bedeutung. Der Kern der Bestimmungen
bezieht sich auf das so genannte „One-State-Only“-Prinzip, dessen Ziel die
Unterbindung illegaler Weiterwanderung und das mehrfache Stellen von
Asylanträgen darstellt. (bpb 2007: o.S.) Die am 15. Juni 1990 unterzeichnete
Dublin-Konvention beabsichtigte also die Erstellung einer Einrichtung gegen das
Phänomen des „Asylum-shopping“, worunter verstanden wird, dass
AusländerInnen in mehreren europäischen Staaten um Asyl ansuchen, wodurch
deren Chancen auf die Anerkennung eines Aufenthaltsstatus erhöht werden.
Durch die Dublin-Konvention werden folglich Kriterien festgelegt, welche die
Ermittlung des für die Prüfung eines Antrages verantwortlichen Staates
ermöglichen. Die Integration des Dubliner Abkommens von 1990 in das
Gemeinschaftsrecht fand schließlich durch die Dublin-Verordnung EG 343/2003 –
auch Dublin-II Verordnung genannt – vom 18. Februar 2003 statt. (Aubin 2009:
85) Auf Basis der Art. 30/31 des Schengener Abkommens, soll jener Vertragsstaat
für die Prüfung des Asylantrags verantwortlich sein, der dem Antragsteller ein
Visum ausgestellt, oder eine Aufenthaltserlaubnis gewährt hat. Sollte der/die
AntragstellerIn „undokumentiert“ eingereist sein, so gilt jener Vertragsstaat als für
die Prüfung verantwortlich, mit dem der/die undokumentiert EingereistE als erstes
Bodenkontakt hatte. (Nuschele 2004: 78)
Demzufolge führte das Dubliner Übereinkommen lediglich die Regelung ein, nach
welcher die Frage der Anerkennung der Erstzuständigkeit bei Asylentscheidungen
geklärt wird, während es noch keine Regelungen über die Art und Weise, wie
Asylverfahren in der EU aussehen sollen, beinhaltet. Es handelt sich hierbei also
noch nicht um eine Harmonisierung des materiellen Asylrechts. (ebd.)
Am 2. September 2008 beantragte das Europäische Parlament eine Änderung der
Dublin-Verordnung von 2003, mit dem Inhalt, dass die Regelung eine hohe
Belastung für südliche EU-Staaten, die meist Transitländer darstellen (etwa
Griechenland, Malta, Zypern und Spanien) und dadurch einen hohe Zahl an
Seite 28
Asylanträgen zu prüfen haben. Zuletzt präsentierte EU-Kommissar Jacques
Barrot, am 7. und 8. September 2008, die vordergründigen Punkte des
Programms „Bâtir une Europe de l’asile“6, welches auf sieben legislativen
Instrumenten beruht, die den gemeinsamen Sockel eines europäischen
Asylsystems bilden sollten. Dabei ist im Speziellen vorgesehen, die Dublin-
Verordnung besonders in Hinblick auf prozedurale Garantien für AsylwerberInnen
zu prüfen. (Aubin 2009: 85f)
2.2.3 Vertrag von Maastricht / Vertrag über die Europäische Union (1992)
Durch den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 – dem Vertrag über die
Europäische Union – mit dem Ziel der Vollendung der Europäischen Union sowie
Integration wurden auch im Bereich Asyl- und Einwanderungspolitik weitere
Schritte gesetzt. In Art. K.1 des Vertrages wird festgehalten, dass Fragen der
Asylpolitik, die Kontrollen der Außengrenzen, sowie auch die Einwanderungspolitik
und die Politik gegenüber Drittstaatsangehörigen (etwa Regelungen über Einreise,
Aufenthalt, Familienzusammenführung, Beschäftigung, etc.) als „Angelegenheiten
von gemeinsamen Interesse“ angesehen und eine entsprechende
Zusammenarbeit angestrebt wird. (Han 2005: 200f) Jedoch wurde nur die
Visapolitik in die erste Säule übernommen, also gänzlich vergemeinschaftlicht,
während die übrigen Politikfelder auf der Ebene zwischenstaatlicher Kooperation
verblieben. Auch der Flüchtlingsschutz an sich blieb im Ermessen der
Regierungen der Mitgliedstaaten. (bpb 2007: o.S.)
Jedoch wurde durch eine Brückenklausel in Art. K.9 des Vertrags von Maastricht
die Möglichkeit geschaffen, dass die Asyl- und Einwanderungspolitik durch einen
einstimmigen Ratsbeschluss in Gemeinschaftsrecht übernommen werden kann.
Außerdem wurde im Falle, dass gemeinsame Maßnahmen besser verwirklichbar
wären, in Art. K.3 dem Rat weiter die Möglichkeit gegeben, auf Initiative eines
Mitgliedstaates oder der Kommission entsprechende Maßnahmen zu beschließen.
Gemäß Art. K.1-K.3 wurden somit im Juni 1995 vom Rat Mindeststandards
6 Zu Deutsch: Ein Europa des Asyls bauen/kreieren
Seite 29
Asylverfahren betreffend beschlossen, sowie eine gemeinsame Bestimmung des
Flüchtlingsbegriffs nach Art. 1 GFK7. (Nuscheler 2004: 179)
Prinzipiell stellt der Vertrag von Maastricht von 1992 deshalb einen wichtigen
Abschnitt bezüglich der Asyl- und Einwanderungspolitik auf europäischer Ebene
dar, da damit die zwischenstaatliche Kooperation auf dem Gebiet in den EU-
Vertrag eingeflochten wurde und folglich ein dauerhafter Verhandlungsprozess
diesbezüglich entstand. (bpb 2007: o.S.)
2.2.4 Vertrag von Amsterdam (1997)
Mit dem 1997 beschlossenen und am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Vertrag von
Amsterdam wird die Harmonisierung des Asyl- und Einwanderungsrechts dem
säulenübergreifenden Gesamtziel der Schaffung eines Raumes der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts unterstellt. Mit der Übernahme der übrigen Politikfelder
in die erste Säule wurden somit Asyl und Einwanderung in der EU zu Politikfeldern
aus eigenem Recht. (Weinzierl 2005: 79f) Die bereits bestehenden Regelungen
des Schengener Abkommens wurden ebenso in den Vertrag von Amsterdam
miteinbezogen, wodurch diese ab diesem Zeitpunkt EU-weit angewandt wurden.
(bpb 2007: o.S.)
Da der Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik von vielen Mitgliedstaaten als
letzte „nationalstaatliche Bastion“ angesehen wurde, wird die Überführung zur
gemeinsamen Zuständigkeit als bedeutender Schritt diesbezüglich angesehen. Bis
zum 1. Mai 2004 – während der fünfjährigen Übergangsphase – galt für
Entscheidungen der Asyl- und Einwanderungspolitik im Rat allerdings noch
Einstimmigkeitsprinzip, in anderen Politikfeldern weiterhin Mehrheitsprinzip. (ebd.)
Währenddessen rang sich das Parlament zu stark an menschenrechtlichen
Normen orientierten asylpolitischen Positionen durch, hatte jedoch wenig Einfluss
auf die in den Ministerräten getroffenen Entscheidungen. (Nuscheler 2004: 180)
7 Zu jenen Mindeststandards mehr in Kapitel 2.2.10 Asylverfahrensrichtlinie
Seite 30
Entsprechend Titel IV erlässt der Rat:
a) innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags
von Amsterdam Maßnahmen zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs
nach Artikel 14 in Verbindung mit unmittelbar damit zusammenhängenden
flankierenden Maßnahmen in bezug [sic] auf die Kontrollen an den
Außengrenzen, Asyl und Einwanderung nach Artikel 62 Nummern 2 und 3,
Artikel 63 Nummer 1 Buchstabe a und Nummer 2 Buchstabe a sowie
Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität nach Artikel 31
Buchstabe e des Vertrags über die Europäische Union; (Vertrag von
Amsterdam 1997: o.S.)
Trotz des Vorhabens des Rats, Maßnahmen im oben zitierten Bereich innerhalb
von fünf Jahren durchzusetzen, blieb hier weiterhin die Wahrung des
Einstimmigkeitsprinzips bestehen und auch dem Parlament, das nur Recht auf
Anhörung erhielt, blieben weitgehend die Hände im Prozess der Gestaltung der
gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik gebunden. (Nuscheler 2004: 180)
2.2.5 Das Tampere-Programm (1999)
Relativ rasch nach dem Amsterdamer Vertrag, verabschiedete der Europäische
Rat 1999 in Tampere ein Arbeitsprogramm bezüglich einer gemeinsamen Asyl-
und Einwanderungspolitik. Dieses sollte am Ende ein gemeinsames Asylsystem
schaffen, sowie die Einwanderungspolitik zum Zwecke der Verwirklichung des
„Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ vergemeinschaftlichen. Man
bekannte sich dabei zur GFK und anderen Menschenrechtserklärungen – etwaige
zu beschließende Maßnahmen sollten sich nach diesen richten und innerhalb von
fünf Jahren umgesetzt werden. (bpb 2007: o.S.) Im Wesentlichen zielt das
Programm auf vier Kernpunkte ab:
• Die Partnerschaft mit Herkunftsländern von Flüchtlingen (besonders
Informationskampagnen);
• Die Ausarbeitung eines „europäischen Asylsystems“ (gemeinsame
Standards für Asylverfahren, gemeinsame Mindestnormen für die
Aufnahme, eine Annäherung der Bestimmungen zur Flüchtlingseigenschaft
und auf längere Sicht ein einheitlicher Status für AsylwerberInnen);
• Die weitestgehende Angleichung des Rechtstatus bereits in der EU
lebender Drittstaatsangehöriger;
Seite 31
• Eine effizientere Steuerung von Migrationsströmen; (Huber 2005: 17)
2.2.6 Richtlinie Vorübergehender Schutz (2001)
Die Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für
die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von
Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der
Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser
Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten wurde durch das loi Sarkozy du
26 novembre 2003 in den französischen Rechtsrahmen übergeführt (Aubin 2009:
82). Vorübergehender Schutz wird dabei verstanden als ein „ausnahmehalber
durchzuführendes
Verfahren“
angesichts
eines
(bevorstehenden)
Massenzustroms Vertriebener, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren
können, wodurch den betroffenen Personen sofortiger vorübergehender Schutz
garantiert wird. Dies gilt vor allem, wenn durch den enormen Zustrom das
Asylsystem des jeweiligen Staates beeinträchtigt wird und Nachteile für die
jeweiligen Personen entstehen. (RL 2001/55/EG: Art. 2a)
Entsprechende Maßnahmen zur Umsetzung werden seit dem Jahr 2000 von
einem Flüchtlingsfonds finanziert. Die Dauer des vorübergehenden Schutzes
beschränkt sich vorerst auf ein Jahr, kann allerdings auf eine Höchstdauer von
zwei Jahren ausgeweitet werden. Dabei verpflichten sich die Mitgliedstaaten dazu,
den Flüchtlingen aufenthaltssichernde Dokumente zu überreichen und die
rechtlichen Voraussetzungen betreffend des Schutzes zu erklären. Zudem
müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass sie den vorübergehend
aufgenommenen Flüchtlingen Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zu beruflicher
Bildung gestatten (wenn es auch möglich ist diese nur nachrangig zu gewähren),
dass diese eine adäquate Unterbringung und Lebensunterhalt erhalten, dass
Minderjährige Zugang zum Bildungssystem bekommen und auch die
Zusammenführung von Familien muss prinzipiell ermöglicht werden. (bpb 2007:
o.S.).
Seite 32
2.2.7 Aufnahmerichtlinie (2003)
Die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von
Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten
harmonisiert Minimalstandards bezüglich der Aufnahme von AsylwerberInnen und
sichert deren Aufenthaltsberechtigung während dem Zeitraum ihres
Asylverfahrens. Ebenso regelt sie deren Anspruch auf eine angemessene
Unterbringung, Versorgung und medizinischer Betreuung. (Nuscheler 2004: 181)
Des Weiteren haben die Mitgliedstaaten die AsylwerberInnen über deren
Ansprüche und Verpflichtungen innerhalb von maximal 15 Tagen „nach
Möglichkeit in einer Sprache erteilt werden, bei der davon ausgegangen werden
kann, dass der Asylbewerber sie versteht“ zu informieren (RL 2003/9/EG: Art. 5).
Innerhalb von drei Tagen nach Antragstellung müssen dem/der Asylansuchenden
eine Bescheinigung über deren Aufenthalt, der ihren Status als AsylwerberIn
bestätigt, aushändigen (RL 2003/9/EG: Art. 6, 1).
Nicht erfolgreich ist die Richtlinie hingegen in Sachen der Bestimmung von
asylberechtigten Familienmitgliedern, welche auf Ehepartner, Lebensgefährten
und minderjährige Kinder limitiert wurde, sowie bezüglich der
Zugangsberechtigung zum Arbeitsmarkt und zur beruflichen Ausbildung und auch
bei der Beschränkung der Bewegungsfreiheit von AsylwerberInnen (Nuscheler
2004: 181).
2.2.8 Das Haager Programm (2004)
Durch das Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in
der Europäischen Union von 2004 wurde die europäische Asylpolitik durch eine
zweite fünfjährige Phase vorangetrieben, da im vorgesehenen Zeitraum nach
Tampere nicht alle festgesetzten Ziele erreicht wurden. Das große Endziel des
Programms ist es, ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem und dabei vor
allem einheitliche Asylverfahren und einen gemeinsamen Rechtsstatus zu
schaffen. (Lachmayer/Bauer 2008: 488) Die zehn spezifischen Schwerpunkte des
Programms liegen dabei auf: der Stärkung der Grundrechte sowie der
Seite 33
Unionsbürgerschaft, dem Kampf gegen den Terrorismus, einem gemeinsamen
Asylverfahren,
einer
ausbalancierte
Herangehensweise
im
Migrationsmanagement, Integration und der Maximierung der positiven
Auswirkungen der Migration, einem integrierten Management von Außengrenzen
für eine sicherere Union, einem ausbalancierten Management von Datenschutz
und Sicherheit im Informationsaustausch, einem strategischem Konzept gegen
organisiertes Verbrechen, der Garantie eines effektiven europäischen
Rechtsraums und auf der Zusammenarbeit im Bereich der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts gestützt auf gemeinsamer Verantwortung und Solidarität.
(Balzacq/Carrera 2006: 6)
Basis für die im Programm vorgesehenen Aufgaben und Ziele ist die Evaluierung
der Ergebnisse, die mit der Umsetzung der während der ersten Phase, 1999-
2004, angenommenen Rechtsinstrumente erzielt wurden. Zu der in der ersten,
erst 2006 abgeschlossenen, Phase des Haager Programms zählen: die Dublin-
Verordnung, die Aufnahmebedingungen- bzw. Qualifikationsrichtlinie, die
Anerkennungsrichtlinie und die Asylverfahrensrichtlinie. Bis 2010 galt es folglich
das Gemeinsame Europäische Asylsystem vollständig umzusetzen und
dementsprechend gemeinsame Mindeststandards im Asylbereich zu
harmonisieren. (Europäische Kommission 2006) Für die Umsetzung in der zweiten
Phase des Programms bestimmt das Grünbuch für ein gemeinsames
europäisches Asylsystem vier Handlungsfelder, in welchen das EU-Asylregime
weiter angezielt werden soll: Rechtsinstrumente, Durchführung und
Begleitmaßnahmen, Solidarität und Lastenteilung und die externe Dimension mit
der Entschärfung von Push-Faktoren. Des Weiteren schlägt die Kommission die
Einrichtung einer Europäischen Unterstützungsagentur vor, welche bei etwaigen
Massenzuwanderungen von Asylsuchenden operative Unterstützung bereitstellen
soll. Ebenso sollen im Rahmen des Haager Programms Regionale
Schutzprogramme etabliert werden, welche dazu dienen sollen, die
Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit von Asylanträgen bereits außerhalb des
EU-Territoriums zu evaluieren. Diesbezüglich legte die Kommission 2005 eine
Mitteilung – 2005(38) – vor. Die Schutzprogramme sollen Schutzmöglichkeiten in
den betroffenen Regionen stärken, die Rückkehr in die Heimatländer, die örtliche
Seite 34
Integration in den Erstasylstaat oder die Neuansiedlung in einem Drittstaat
ermöglichen8. (bpb 2007: o.S.)
Vergleicht man schließlich das Haager Programm mit jenem von Tampere, so fällt
auf, dass sich das Haager Programm stärker auf den Aspekt der Sicherheit, als
auf jenen der Freiheit konzentriert:
In fact, the ‘shared commitment to freedom based on human rights, democratic
institutions and the rule of law’, as set out at Tampere, is not a cornestone of its
successor. The Council now gives a high priority to security, meaning: ‘the
development of an area of freedom, security and justice, responding to a central
concern of the peoples of the States brought together in the Union’.
(Balzacq/Carrera 2006: 29).
2.2.9 Qualifikationsrichtlinie (2004)
Am 29. April 2004 beschloss der Rat die Richtlinie 2004/83/EG über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen
oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig
internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden
Schutzes. Wie der Titel besagt behandelt die RL inhaltlich insbesondere Kriterien
betreffend der Vergabe des Flüchtlingsstatus beziehungsweise des subsidiären
Schutzstatus und klärt ebenso, welche Rechte und Pflichten an den jeweiligen
Status gebunden sind. (bpb 2007: o.S.)
Bedeutend in Hinblick auf die Qualifikations-RL ist, dass sie das System des
subsidiären Schutzes harmonisiert und somit EU-weit einführt, wodurch Personen
Schutz geboten werden kann, die die Voraussetzungen der GFK nicht erfüllen
(Europäische Kommission 2006: o.S.). Eine Person mit Anspruch auf subsidiären
Schutz bezeichnet demnach:
[…] einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die
Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfuellt [sic], der
8 Diverse NGOs sowie auch der UNHCR äußern diesbezüglich die Befürchtung, dass die
Regionalen Schutzprogramme das Recht auf Asyl in der EU untergraben könnten, da Zielländer
eventuell als „sichere Drittstaaten“ bewertet werden könnten, was die Rückführung durchreisender
Asylwerber beschleunigen könnte (bpb 2007: o.S.).
Seite 35
aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer
Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land
seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen
ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel
17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses
Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in
Anspruch nehmen will; (RL 2004/83/EG: Art. 2e)
Der Aufenthaltstitel über subsidiären Schutz ist mindestens ein Jahr gültig und
muss, sofern keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht (Ausschluss),
verlängerbar sein (RL 2004/83/EG: Art. 24, 2).
Entsprechend der Qualifikations-RL wird festgelegt, dass Akteure von denen
Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, sowohl Staaten, als
auch Parteien, Organisationen, oder nichtstaatliche Akteure sein können (RL
2004/83/EG: Art. 6). Demgegenüber sind etwaige Schutz bietende Akteure nicht
Staaten, sondern auch Parteien und Organisationen die den jeweiligen Staat oder
einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (RL 2004/83/EG: Art. 7).
Sobald jedoch interne Schutzmöglichkeiten bestehen – etwa wenn in einem
Gebiet des Landes keine Verfolgungsfurcht beziehungsweise tatsächliche Gefahr
bestünde – kann dem/der Asylansuchenden der Anspruch auf
internationalen/subsidiären Schutz verweigert werden (RL 2004/83/EG: Art. 8).
2.2.10 Asylverfahrensrichtlinie (2005)
Die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen
für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der
Flüchtlingseigenschaft stellt nach Dublin II den zweiten Grundpfeiler eines
gemeinsamen europäischen Asylsystems dar. Im Kern harmonisiert diese RL
sowohl die Asylverfahren, als auch den Status von Flüchtlingen EU-weit. (Aubin
2009: 85) Sie wurde bereits 2004 vom Rat angenommen, konnte jedoch wegen
Parlamentsvorbehalten seitens Deutschlands, den Niederlanden, Schwedens und
Großbritanniens noch nicht erlassen werden (Bretl 2005: 31). Sie trat schließlich im
Januar 2006, mit fünf Jahren Verspätung, in Kraft und klärt vor allem Kriterien:
des Zugangs der AntragstellerInnen zum Asylverfahren;
Seite 36
des Bleiberechts des Verfahrens des Antrags;
• der Anforderungen an die Prüfung der Anträge;
• der Anforderungen an die Entscheidung der Asylbehörde;
• der Garantien, Rechte und Pflichten der AsylwerberInnen;
des Verlaufs des und Anforderungen in Bezug auf die persönliche
Anhörung der AsylwerberInnen;
• der Garantien unbegleiteter Minderjähriger;
• der Prinzipien sicherer Dritt- und Herkunftsstaaten;
Besondere Bestimmungen werden ebenso auf dem Gebiet der Folgeanträge,
Verfahren an den Grenzen und Verfahren zur Rücknahme des Flüchtlingsstatus
festgelegt. (RL 2005/85/EG)
Kritik an der RL respektive der Entscheidungsfindung erfolgte insbesondere durch
das Europäische Parlament, welches sich zu wenig in den Erstellungsprozess
einbezogen fühlte. Dem Rat zufolge fiel die RL unter das Anhörungs- bzw.
Konsultationsverfahren, weshalb das Parlament beim Europäischen Gerichtshof
eine Klage einreichte, um jene Bereiche annullieren zu lassen, in welchen die
Erstellung von Minimallisten und die gemeinsame Liste sicherer Drittstaaten9
festgeschrieben waren. (bpb 2007: o.S.) Die von der Asylverfahrens-RL
vorgesehene Liste sicherer Drittstaaten, wurde schließlich vom EuGH in einer
Pressemitteilung vom 6. Mai 2008 annulliert. Bezüglich der Liste war vorgesehen,
dass diese vom Rat gestaltet wird. In der Rechtssache C-133/06 argumentiert der
EuGH die Nichtigkeit der gemeinschaftlichen Liste wie folgt:
Der Rat hat dadurch, dass er für die zukünftige Erstellung gemeinsamer Listen
sicherer Staaten nur die Anhörung des Parlaments und nicht das
Mitentscheidungsverfahren vorsieht, die ihm durch den Vertrag zugewiesenen
Befugnisse im Bereich der Asylpolitik überschritten. (EuGH 2008: 1)
Weitere Kritik geschah seitens des UNHCR, der in einer Pressemitteilung vom 24.
November 2003 den Entwurf der Asylverfahrens-RL als einen Ansatz bezeichnete,
der sich in wesentlichen Aspekten von anerkanntem internationalen Flüchtlings-
und Menschenrecht verabschiede, da er dieses unterliefe. Der EU-Entwurf
9 Zur Rolle Frankreichs bezüglich der Erstellung einer Liste sicherer Herkunftsstaaten siehe Kapitel
3.3.2 Erste Phase gemeinsamer europäischer Asylpolitik 1999-2006: Frankreich auf der
Überholspur
Seite 37
enthalte weit reichende Möglichkeiten, um Asylsuchende vom Verfahren – ohne
rechtliche Prüfung – auszuschließen. (Kopp 2004: 37) Zusammenfassend äußert
der UNHCR Besorgnis einer negativen Praxis in folgenden Punkten:
• Ansatz sicherer Drittstaaten;
• Beschleunigte Verfahren entsprechend Art. 23, Abs. 4 (wenn diese nicht mit
der Begründetheit der Verfahren zu tun haben);
• Ausnahmen
und
Möglichkeiten
von
Mindestnormen
der
Verfahrensgarantien abzuweichen entsprechend Kapitel II, Art. 24 und 35;
• Die Tatsache, dass der Verbleib im Land, entsprechend Art. 6 und 38, nur
während des Verfahrens in erster Instanz gewährleistet ist;
• Antragstellende können das Land aus unterschiedlichen Gründen vor
inhaltlicher Prüfung des Antrags verlassen; die RL erlaubt es den Staaten,
entsprechend Art. 19, 20 und 33, Anträge solcher Asylsuchenden als
unbegründet abzuweisen. (UNHCR 2005 a: 1-5)
2.2.11 Europäischer Pakt zu Einwanderung und Asyl (2008)
Am 15. und 16. Oktober 2008 schloss der französische EU-Vorsitz den
Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl ab. Ziel ist es, vor allem die
Bereiche (illegale) Immigration und Asyl intensiver auf EU-Ebene einzugliedern,
sowie die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Bezug auf Migrationsströme zu
verstärken. Die Akzentsetzung fällt dabei vor allem auf die Erhöhung der
Sicherheit der EU-Bürger und den Kampf gegen illegale Einwanderung. (Aubin
2009: 90f) Die einzelnen Punkte, die der Pakt regelt, sind:
Legale Migration: Dabei sind spezielle Anforderungen und
Aufnahmekapazitäten einzelner Mitgliedsstaaten, sowie die Integration, zu
berücksichtigen. Grundlegend sind die Blue Card-Initiative und ein
Aktionsplan zur legalen Migration;
Illegale Migration: Bekämpfung illegaler Einwanderung und Rückführung in
Dritt- sowie Transitländer. Im Wesentlichen wird der Bereich durch die
kürzlich verabschiedete Rückführungsrichtlinie abgedeckt. Die
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten kann dabei etwa in Form von Sammel-
Seite 38
Rückführungsflügen, verbesserten Rückübernahmeabkommen sowie einem
verstärktem Kampf gegen Menschenhandel und –schmuggel erfolgen.
Grenzkontrollen: Betont und verstärkt wird in diesem Bereich die Rolle der
Frontex, der EU-Agentur für die operative Zusammenarbeit an den
Außengrenzen.
Asylpolitik: Einheitliche Mindeststandards; Unterstützungsagenturen für
Asylfragen sollen bis 2009 und ein einheitliches Asylverfahren soll bis 2010
etabliert werden.
Drittländer: Schaffung von Partnerschaften mit Herkunfts- und
Transitländern. Der Pakt ermöglicht die legale Migration in Abhängigkeit
von Arbeitsmarktsituation und Qualifikation. (vgl. immigration.gouv.fr 2008:
4/Euractiv 2008: o.S.)
Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl wurde von der französischen
NGO La Cimade stark kritisiert, da er hauptsächlich erweiterter und verschärfter
Grenzkontrollen (sowie der Rolle von Frontex) und dem Schutz der EU vor
Einwanderung diene, auf die Aufnahme höchst qualifizierter Einwanderer (etwa
durch die Blue Card) und somit auf eine gewählte Migration abziele, während er
die weitere Abschottung etwaiger AsylwerberInnen unterstütze (Cimade 2009:
26ff). Auch der UNHCR plädierte dafür, dass die verschärften Kontrollen an den
EU-Außengrenzen den Zugang zum Flüchtlingsschutz keinesfalls limitieren
dürfen. (bpb 2008 : o.S.)
2.2.12 Rückführungsrichtlinie (2008)
Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den
Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger tritt ab
2010 in Kraft und klärt:
[…] gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der
Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den
Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des
Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen
Seite 39
und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind. (RL 2008/115/EG:
Art. 1).
Dabei ist vorgesehen, dass jenen aufgegriffenen MigrantInnen eine Frist von
sieben bis 30 Tagen gegeben wird, um freiwillig auszureisen. Die Festnahme wird
bis zu sechs und in besonderen Fällen bis zu 18 Monaten ermöglicht, wobei
spezielle Hafteinrichtungen vorgesehen sind. Des Weiteren ist es möglich
illegalen MigrantInnen, die nicht freiwillig ausreisen, ein generelles EU-weites
Einreiseverbot aufzuerlegen. Zu den Rechten der illegalen MigrantInnen gehören
laut RL der Anspruch auf kostenlosen Rechtsbeistand und die Möglichkeit der
Kontaktaufnahme mit Familienangehörigen sowie mit Konsularbehörden. (Kaden
2009: 48)
Kritiker melden sich in Hinsicht auf die Rückführungs-RL besorgt und beklagen vor
allem die Möglichkeit einer 18-monatigen Schubhaft, des generellen
Einreiseverbots in die EU, sowie die Möglichkeit Minderjährige festzuhalten
(Cimade 2009: 146). Aus den Anmerkungen des UNHCR zur Richtlinie geht
insbesondere die Forderung heraus, dass keine Rückführungsentscheidung
getroffen werden darf, die dem Non-Refoulement-Prinzip der GFK oder andere
Menschenrechtsintrumente verletzen. Ebenso bemängelt der UNHCR an der RL
das Fehlen eines unabhängigen und konsistenten Monitoring der Sicherheit und
des Wohlergehens der abgeschobenen Personen. (UNHCR 2005 b: 1f)
2.2.13 Lissabon-Vertrag und Grundrechtecharta (2009)
Der Lissabon-Vertrag, seit 1. Dezember 2009 in Kraft, sieht im Bereich
Einwanderung und Asyl einige Änderungen in Hinblick auf Kompetenzen und Art
und Weise der Verfahren vor. Bestimmungen zur Migrationspolitik befinden sich
dabei in den Artikeln 77 bis 80. Bei migrationspolitischen Entscheidungen, sowie
auch im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen,
wird das Mitbestimmungsverfahren, also das Mitentscheidungsrecht des
Europäischen Parlaments (nach Art. 294 „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“),
sowie die Entscheidung durch eine qualifizierte Mehrheit angewandt. Davon sind
jedoch Beschlüsse in Hinblick auf Wirtschaftsmigration ausgenommen. (Kaden
Seite 40
2009: 34) Grundsätzlich sind im Lissabon-Vertrag im Einwanderungs- und
Asylbereich die Kompetenz zur Einführung eines EU-Grenzschutzsystems, die
Festlegung einheitlicher Asylvorschriften, die Bekämpfung des Menschenhandels
sowie Integration von Drittstaatsangehörigen, der Erlass von Regeln zur
gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsurteilen, die Vereinheitlichung von
Straftatbeständen, Kriminalprävention, sowie die Verstärkung polizeilicher
Zusammenarbeit und die Einrichtung einer EU-Staatsanwaltschaft vorgesehen.
(cep o.J.: 1f)
Im Amtsblatt C 115/337 der EU10 vom 9. Mai 2008 wird festgehalten:
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die rechtsverbindlich ist,
bekräftigt die Grundrechte, die durch die Europäische Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert werden und die sich aus
den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.
(Vertrag von Lissabon 2008: A 1)
Gemäß der Europäischen Grundrechtecharta wird in Kapitel II Freiheitsrechte in
Art. 18 auf das Recht auf Asyl laut GFK und dessen Zusatzprotokoll von 1967 und
unter Art. 19 auf das Non-Refoulement-Prinzip verwiesen. Auch
Kollektivabschiebungen werden untersagt. (EU-Grundrechtecharta 2000) Die
Tatsache, dass in Art. 18 auf Regelungen außerhalb der Grundrechtecharta
verwiesen wird, mindert nicht die Qualität als Recht, sondern bewirkt eine
primärrechtliche Absicherung der erwähnten asylrechtlichen Gewährleistungen
durch ein Grundrecht – es wird somit auf die höchste Stufe der Normenhierarchie
der Unionsrechtsordnung gehoben. (Kober 2009: 104)
2.3 Asylrecht in Frankreich
In diesem Kapitel soll ein kurzer Einstieg in das französische Asylrecht erfolgen.
Während das Internationale Asylrecht, wie auch das Europäische Asylrecht das
französische Recht mitbestimmen, ist das Asylrecht in Frankreich in der
Verfassung und im Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile11
10 Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13. Dezember 2007
unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat.
11 Zu Deutsch: Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Fremden und des Asylrechts
Seite 41
(CESEDA) verankert. Ebenso soll das Asyl- vom Fremendenrecht unterschieden
und anschließend die beiden zentralen Kompetenzen beziehungsweise Instanzen
in Hinblick auf die Vergabe des Asylrechts – Office français de protection des
réfugiés et apatrides12 (OFPRA) und Cour national du droit d’asile13 (CNDA) –
näher betrachtet werden.
2.3.1 Asylrecht in der Verfassung
In Frankreich gibt es neben dem konventionellen Asylrecht, basierend auf der
GFK und dem Gesetz vom 25. Juli 1952, auch ein in der Verfassung
festgeschriebenes Asylrecht. Dieses betrifft jede Person, die aufgrund einer
Handlung im Sinne der Freiheit verfolgt wird. In der Präambel der Verfassung von
1946 wird dementsprechend festgehalten: „Tout homme persécuté en raison de
son action en faveur de la liberté a droit d’asile sur les territoires de la
République.14 (Verfassungspräambel 2009: Punkt 4). Somit zielt diese Norm
grundsätzlich auf Fremde, die sich in ihren Ländern für die Respektierung der
Menschenrechte und der Demokratie einsetzen und daher zu Verfolgungsobjekten
werden. (Aubin 2009: 178)
2.3.2 Asylrecht im CESEDA – Bestandteil des Fremdenrechts
Die nationale Rechtsgrundlage zur Anerkennung von Flüchtlingen stellt das
Gesetz vom 25. Juli 1952 mit der Durchführungsverordnung vom 2. Mai 1953 dar
(Rey 1997: 60). Das Fremdenrecht, sowie auch das Asylrecht werden durch den
so genannten Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile
(CESEDA) geregelt. Im Speziellen befasst sich das Livre VII (Le droit d’asile) des
CESEDA dabei mit dem französischen Asylrecht sowie mit dem subsidiären
Schutz und das Livre III mit dem vorübergehenden Schutz, Bestimmungen zu
12 Zu Deutsch: Französisches Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen
13 Zu Deutsch: Nationaler Asylgerichtshof
14 Zu Deutsch: Jede Person, die wegen ihres Handelns im Sinne der Freiheit verfolgt wird, hat
Recht auf Asyl auf dem Territorium der Republik.
Seite 42
Schubhaft und „sonstigen Bestimmungen“. Im Livre VII sind somit
Zuständigkeiten, Zugang und das Recht auf Aufenthalt im Rahmen des
Asylrechts, sowie sonstige asylrelevante Bestimmungen geregelt. (CESEDA 2010:
o.S.)
Während das Fremdenrecht im CESEDA sich generell aus den Bereichen der
Einreise, des Aufenthalts bzw. der Aufenthaltsgenehmigungen und die Vergabe
von Visen, der Rückführungsmaßnahmen, der Kontrollen und Sanktionen,
Arbeitsmöglichkeiten, Familienzusammenführungen und Ko-Entwicklung klärt,
stellt das Asylrecht einen umfassenden gesonderten Rechtsbereich dar. Zwar mag
sich das Asylrecht mit sonstigen Bedingungen und Bestimmungen des CESEDA
überschneiden, jedoch stellt es etwa allein aufgrund spezieller Bestimmungen des
Aufenthalts, der Prozedur und der Organisation im Livre VII einen großen,
prinzipiell separaten Bereich des Fremdenrechts dar. Anders als in den sonstigen
Domänen des Fremdenrechts, stellt ein eigener nationaler Asylgerichtshof, der
Cour nationale du droit d’asile (CDNA), im Asylrecht laut Livre VII, Titre III das
zentrale Kontrollorgan im Asylbereich – und somit auch die Berufungsinstanz in
Asylsachen – dar. (ebd.)
Das im CESEDA verankerte Asylrecht beruft sich und verweist sowohl auf
Bestimmungen der Verfassung, als auch auf internationale Normen wie die des
UNHCR und die GFK. (OFPRA 2009 b: o.S.)
2.3.3 Kompetenzen: OFPRA und Cour Nationale du droit d’asile (CNDA)
Die Office français de protection des réfugiés et apatrides (OFPRA) ist in
Frankreich seit dem loi de décembre 2003 die einzige Institution (Aubin 2009:
179), die die Kompetenz hat, AsylwerberInnen Zugang zum Asylsystem und somit
zum Flüchtlingsschutz zu gewähren. Die OFPRA unterliegt der Aufsicht des
Ministeriums für Immigration, Integration, nationale Identität und Ko-Entwicklung
und stellt eine Anstalt des öffentlichen Rechts dar. (OFPRA 2009 c: o.S.)
Seite 43
Verwaltungs- und finanztechnisch besitzt sie somit die Autonomie – in Anwendung
des französischen Rechts, sowie europäischer und internationaler Konventionen –
im Bereich der Anerkennung des Flüchtlingsstatus, des Staatenlosenstatus und
der Anerkennung des subsidiären Schutzes. (OFPRA o.J.: o.S.) Aufgabe der
OFPRA ist es in einem ersten Schritt zu verifizieren, ob ein/e FremdeR die
Bedingungen zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus erfüllt, in einem zweiten
Schritt, bei Nichterfüllung, ob die Vorraussetzungen zur Vergabe des subsidiären
Schutzes bestehen. (Aubin 2009: 179)
Vor dem in Kraft treten des loi Hortefeux de novembre 2007, war die OFPRA noch
dem Außenministerium unterstellt. Nun ist sie dem/der MinisterIn, der für die
Einwanderung und den Aufenthalt von Fremden zuständig ist, verantwortlich und
dementsprechend nicht mehr dem/der MinisterIn, der/die generell in den
internationalen Beziehungen tätig ist. Diese Änderung in der Administration führte
zu vielerlei Kritik. Grundsätzlich wäre die Angliederung der OFPRA ans
Ministerium für Immigration, Integration, nationale Identität und Ko-Entwicklung
nicht nur symbolisch, wenn dies zu bedeuten gibt, dass AsylwerberInnen damit in
eine Logik der immigration subie (erduldete Immigration) eingegliedert werden.
Die Frage nach dem Recht auf Schutz von Flüchtlingen wäre dadurch jener nach
dem Recht auf Aufenthalt unterworfen worden. (ebd.: 193)
Der Cour national du droit d’asile (CNDA) ist das Prüfungsorgan in zweiter Instanz
und somit für Berufungsfälle zuständig. Er stellt eine administrative Gerichtshoheit
dar, welche unter der Autorität eines Präsidenten und eines Mitglieds des Conseil
d’État (oberstes Verwaltungsgericht), bestellt durch den Vizepräsidenten des
Conseil d’État, agiert. (CESEDA 2010: L-731-1) Der/die Asylansuchende,
dessen/deren Anfrage abgelehnt wurde, hat nach der Entscheidung durch die
OFPRA ein Monat Zeit um beim CNDA Berufung einzureichen und muss von
neuem die etwaigen Dokumente, die Entscheidung der OFPRA und ein Schreiben
– wie beim Ansuchen selbst, in Französisch verfasst – einreichen, in welchem
er/sie seine/ihre Berufung begründet. (OFPRA 2009 d: o.S.)
Der CNDA untersucht folglich Ansuchen von Flüchtlingen aufgrund von
Maßnahmen die in den Artikeln 31, 32 und 33 der GFK (nicht rechtmäßiger
Seite 44
Aufenthalt im Aufnahmeland, Ausweisung, Verbot der Ausweisung und
Zurückweisung) festgelegt sind und formuliert einen Bescheid, nach welchem jene
Maßnahmen entweder aufrechterhalten oder annulliert werden. In diesem Falle
hat die Berufung aufschiebende Wirkung, wobei das Recht auf Berufung innerhalb
einer Woche genützt werden muss. (CESEDA 2010: Art. L-731)
Seite 45
3. Die Entwicklung der französischen Asylpolitik ab Ende der
1980er Jahre - Zuspitzung des Asylrechts
3.1 Entwicklung der (Asyl-)migration nach Frankreich
Da sich das dritte Kapitel vorwiegend auf die französische Asylpolitik konzentriert,
wird versucht dieses Unterkapitel zur Asylmigration nach Frankreich relativ knapp
zu halten. Aufgrund der unumgänglichen Verknüpfung der Asylmigration mit der
darauf bezogenen Politik, soll hier die Entwicklung von (Asyl-)Migrationsströmen,
deren Ursachen sowie die Aufnahme- bzw. Ablehnungsrate knapp dargelegt
werden.
3.1.1 Migrationsströme
Die wachsende Zahl der Migrationsströme basiert auf einer Reihe
unterschiedlicher Ursachen. Zum einen werden Migrationsbewegungen häufig
durch die enormen Einkommens- sowie Vermögensunterschiede zwischen dem
Norden und dem Süden bedingt. Zusätzlich werden diese Unterschiede durch
demographische Eigenschaften weiter verschärft, wodurch sich grundsätzlich ein
alternder und reicher Norden und junge, ärmere bzw. arme Entwicklungs- und
Schwellenländer im Süden konstatieren lassen. Allerdings sind es nicht nur die
Länder des Nordens, wie beispielsweise in Europa, denen Migranten sich
zuwenden. Beinahe die Hälfte der weltweiten Migration, passiert zwischen den
Ländern des Südens. (Bauer/Bartz/Ahi 2009: 16)
In Frankreich stellt die Familienzusammenführung – seit den 1970er Jahren, als
man aufhörte ausländische Arbeitskräfte zu rekrutieren – zahlenmäßig den
bedeutendsten Migrationsgrund dar (bpb 2007: o.S.). Seit dem Jahr 2004 hat die
permanente Immigration nach Frankreich stetig abgenommen, was insbesondere
auf die Verringerung von Familienzusammenführung zurückgeführt werden kann,
welche nicht durch eine Steigerung von Arbeitszuwanderung ausgeglichen wurde
(OECD 2009: 1). Die Flüchtlingsmigration macht im Vergleich zur gesamten
Seite 46
Migration nur einen kleinen Teil aus: 2005 entfielen rund 10 % und 2006 nur rund
8 % der neu erteilten Aufenthaltstitel auf anerkannte Flüchtlinge (Sohler 2009: 15).
Der größte Anteil der MigrantInnen in Frankreich kommt ursprünglich aus
afrikanischen, der zweitgrößte Anteil aus asiatischen Ländern. Im Großen und
Ganzen lässt sich konstatieren, dass einer von drei neuen Immigranten aus
Algerien oder Marokko kommt, gefolgt von Migranten aus Tunesien und der
Türkei. (OECD 2009:1) Insgesamt ist seit 1975 die Zahl europäischer
AusländerInnen in Frankreich gesunken (von 61 % 1975 gegenüber 40 % 2006),
während die Zahl afrikanischer (35 % gegenüber 43 %) und asiatischer
AusländerInnen (3 % gegenüber 13 %) gestiegen ist. Das Alter betreffend lässt
sich feststellen, dass die ausländische Bevölkerung mit einem durchschnittlichen
Alter von 38,9 ein wenig jünger als die Franzosen/Französinnen ist. Île-de-France,
Rhône-Alpes et Provence Côte-d'Azur bleiben mit einer Quote von 60 % die
Regionen, in welchen sich die meisten AusländerInnen befinden. (Régnard 2009:
1).15
3.1.2 Asylmigration
Gegen Ende der 1980er Jahre lässt sich ein starker Anstieg der Asylanträge in
Frankreich verzeichnen, was partiell mit dem Schwinden anderer Migrationskanäle
erklärt werden kann (Engler 2007: 4). Die Antragszahlen erreichten 1989 einen
Höchstwert von 61.422 und gingen schließlich in den 1990er Jahren bis 1996
wieder zurück, wobei dieser Rückgang durch bürokratische Hindernisse und einer
Tendenz niedriger Anerkennungsquoten erklärt werden kann (ebd.). Daraufhin ist
wiederum ein Anstieg der Anträge mit einem neuerlichen Höchstwert im Jahr 2003
(52.204 Anträge) zu verzeichnen (Sohler 2009: 6). Die Zahl der Asylanträge sank
15
Die Bestandsaufnahme der ausländischen, in Frankreich aufhältigen, Bevölkerung beruht
entsprechend dem Département des statistiques, des études et de la documentation des Ministère
de l'immigration, de l'intégration, de l'identité nationale et du développement solidaire auf der
Volkszählung und stelle die vertrauenswürdigste Form dieser Bestandsaufnahme dar (Rénard
2009: 3). Dementsprechend sollen erwähnte Zahlen mit Vorsicht betrachtet werden. Ein weiterer
Punkt, welcher die genaue Bestandsaufnahme der Migrationsströme nach Frankreich erschwert ist
die Unterscheidung zwischen "étrangers" (Ausländern) und "immigrés" (Einwanderern) - beide
Gruppen überschneiden sich (Brauner 2006: 12).
Seite 47
zwischen 2005 und 2006 um 38,3 % und im Jahr 2007 wiederum um 9,4 %.
Dieser Rückgang fällt zeitlich überein mit dem Inkrafttreten der Reform des
Asylrechts, Stichwort loi Villepin16, im Dezember 2003 (Aubin 2009: 176).
Allerdings gab es einen starken Anstieg von 29.400 Anträgen im Jahr 2007 auf
42.600 im Jahr 2008 und 47 686 im Jahr 2009. (OECD 2009: 1; OFPRA 2010: 6).
Quelle: OFPRA 2010, 6
Somit war Frankreich 2009 in Europa abermals das Land mit den meisten
Asylanträgen (OFPRA 2010: 9). Auch im internationalen Vergleich der
Industrieländer verhält sich dies in der ersten Hälfte des Jahres 2009 so, wobei
Frankreich gleich nach den USA das antragstärkste Land darstellte (UNHCR
2009: 4). Innerhalb der EU-25 machten 2006 die in Frankreich gestellten
Asylanträge 15,4 % der AsylwerberInnen in der EU aus, wobei Frankreich generell
in den letzten Jahren das Land mit den meisten Asylanträgen in der Union war.
16 Hierzu mehr in Kapitel 3.2.8 Loi Villepin (2003)
Seite 48
Betrachtet man die Zahl der Asylansuchenden jedoch im Verhältnis zur
Bevölkerungsgröße, so relativiert sich dies wieder - verhältnismäßig wäre
Frankreich in der EU somit nur an achter Stelle der stärksten Aufnahmeländer.
(Sohler 2009: 6)
Quelle: UNHCR 2009, 4
Seit den 1990er Jahren haben sich die Hauptherkunftsländer der Asylantragenden
verschoben. Zwischen 2000 und 2004 kam der größte Anteil der AsylwerberInnen
aus afrikanischen Ländern (über 40 %). Seit 2004 kommen die meisten
AsylwerberInnen neuerlich aus europäischen Ländern, insbesondere aus der
Türkei, wobei es sich hierbei mehrheitlich um KurdInnen handelt. (ebd.: 8) Im Jahr
2009 waren Serbien und Kosovo (3.454 Personen), Sri Lanka (2.617), Armenien
(2.297), die Demokratische Republik Kongo (2.113), Russland (1.961) und die
Türkei (1.826) die sechs antragstärksten Nationen. (OFPRA 2010: 8)
Die Zahl der Asylanträge amerikanischer AsylwerberInnen aus Haiti (in die
Überseegebiete Martinique, Guadeloupe und Französisch Guyana) hat sich seit
2000 stark erhöht, wobei haitianische AsylwerberInnen im Jahr 2005 die stärkste
nationale Herkunftsgruppe darstellte. Im Jahr 2006 ging diese Zahl allerdings
wieder stark zurück. Dieser Rückgang wurde von der OFPRA durch die
Einführung stärkerer Grenzkontrollmaßnahmen sowie erweiterter administrativer
Maßnahmen erklärt. Asylanträge aus den Departements d‘Outre Mer (DOM)
Seite 49
stellen somit eine Besonderheit des französischen Asylwesens dar, welche sich
aus der geographischen Nähe zu den Herkunftsländern ergibt. Neben der "Nähe"
Haitis an oben genannte DOMs gilt dies auch für die Insel Mayotte nahe
Madagaskar. (Sohler 2009: 8, 11) Von 2007 auf 2008 stiegen die Asylanträge in
den Überseegebieten wieder enorm an (von 1.085 auf 2.329, also mehr als eine
Verdoppelung der Anträge), wobei dieser Anstieg die Gesamtheit der
französischen Überseegebiete betrifft (OFPRA 2009: 15). Im Vergleich zum Jahr
2008 blieben die Asylanträge in den Überseegebieten mit 2.382 Ansuchen
allerdings relativ stabil (OFPRA 2010: 11).
Nach der Region Île-de-France (44 %) sind Rhône-Alpes (10 %), die DOM-COM
(6 %), die Region Provence Alpes Côte d'Azur (5 %) und das Elsass (4 %) die
Top-Vier-Regionen des Aufenthalts der AsylwerberInnen. Die Asylanträge
konzentrieren sich mit 69 % Antragsdichte stark auf diese fünf Regionen (OFPRA
2010: 6). Generell lässt sich bei der Verteilung auf die Regionen im Verlauf der
Jahre eine Regionalisierung und somit eine Dezentralisierung der
AsylwerberInnen konstatieren (Sohler 2009: 11).
Ferner konnte seit 2004 eine sozio-demographische Tendenz hin zu einer
verstärken Anzahl an Asylanträgen von Frauen festgestellt werden, während im
Vergleich der Anteil allein stehender Männer sinkt. Weiblich AsylwerberInnen
kommen vor allem aus Afrika und suchen vorwiegend aufgrund
geschlechterspezifischer Verfolgung an (ebd.: 10). Auch das Alter der
antragstellenden Personen steigt zunehmend. Diese Trends wurden auch im Jahr
2008 weiter bestätigt. Bis 2004 nahm die Zahl unbegleiteter minderjähriger
Flüchtlinge zu, nahm jedoch in den Folgejahren sowie auch 2008 wieder ab und
blieb 2009 stabil. (OFPRA 2009: 10, 13; OFPRA 2010: 6)
Prinzipiell lassen sich Asylmigrationsströme durch verschiedene Faktoren
erklären. Diesbezüglich spricht die Literatur von sogenannten push factors, welche
Asylsuchende aus einem Land treiben (wie Kriege, Minderheitenkonflikte, Armut)
und pull factors, welche Asylsuchende in ein bestimmtes Land oder eine
bestimmte Region anziehen (wie Schutz, Sicherheit, demokratische Institutionen,
wirtschaftliche Faktoren). Allerdings mischen sich hierzu auch bestimmte
Seite 50
Zwischenfaktoren zum Grund der Flucht, so gibt es meist nicht nur einen sondern
mehrere Fluchtgründe. (Castles/Loughna 2003: 53-63) Die Interpretation der
Fluchtgründe und den Verschiebungen der Asylanträge nach Herkunftsländern in
Frankreich lassen sind dementsprechend vielschichtig, da sie auf einem
Zusammenspiel von externen, internationalen Aspekten (wie Krisen und Kriege,
etc.) und innenpolitischen Aspekten (wie Grenzkontrollen, Zugang zur
Antragstellung, etc.) beruhen (Sohler 2009: 9f.).
Auf Ebene der EU geht die Zahl der AsylwerberInnen seit dem Jahr 1993 deutlich
zurück. Demgemäß lässt sich ein gesamteuropäischer Trend hin zu einer
verschärften Asylpolitik erkennen, die ab diesem Zeitpunkt zunehmend koordiniert
wurde. Einzelne Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen, wie etwa
Griechenland, Spanien, Malta oder Ungarn, verzeichnen jedoch auch einen
Anstieg der Antragszahlen. (Lavenex 2009: 7)
Quelle: Eurostatt, in: Lavenex 2009, 7
Seite 51
3.1.3 Anerkennung des Flüchtlingsstatus
Zu Beginn der 1980er Jahre war die Anerkennungsrate17 in Frankreich im
Vergleich zur heutigen Zeit sehr hoch (mit 80 % im Jahr 1981), seither ging sie
stark zurück. Am Anfang der 1990er Jahre lag die Anerkennungsrate etwa bei 17
%, stieg dann kurzfristig auf 30 % und pendelte sich anschließend, ab Mitte der
1990er Jahre, inklusive Anerkennungen im Berufungsverfahren, zwischen 16 %
(1995) und 19,5 % (2006) ein. Das Jahr 2005 stellte mit einer Rate von 26,9 %
eine Ausnahme dar, wobei diese Steigerung durch eine enorme Zunahme der
Aufhebungen und Anerkennungen in der Berufung, zu Anträgen die zuvor von der
OFPRA entschieden wurden und infolge der Aufarbeitung von
Verfahrensrückständen zu erklären ist. (Sohler 2009: 12) Die gesamte Rate an
Anerkennungen – also Entscheidungen über Anerkennungen durch die OFPRA
inklusive der Entscheidungen durch den CNDA – ist von 36 % im Jahr 2008 auf
29,4 % im Jahr 2009 gesunken. (OFPRA 2010: 32) Dabei ist insgesamt in den
letzten Jahren ein Trend hin zu steigenden Anerkennungsraten in der
Berufungsinstanz im Vergleich zu den Anerkennungsraten durch die OFPRA
deutlich geworden (Sohler 2009: 12).
Des Weiteren ist die Anerkennungsrate je nach Herkunftsland der
AsylwerberInnen sehr unterschiedlich. Im Jahr 2006 hatten Länder wie Eritrea,
Ruanda, Äthiopien, Sudan, Iran oder Irak die höchste Anerkennungsrate. Diese
Länder wiesen allerdings eine geringe Zahl an Asylansuchenden auf. Hingegen
waren die Anerkennungsraten von AsylwerberInnen aus Herkunftsländern mit den
meisten Anträgen – beispielsweise Türkei, Serbien und Montenegro, Sri Lanka,
Demokratische Republik Kongo oder Haiti - sehr niedrig. (ebd.: 12f) Auch im Jahr
2008 entsprachen die Länder mit der höchsten Anerkennungsrate (Irak, Eritrea,
Somalia, Ruanda, Mali) nicht jenen, welche die meisten Anträge stellten (vgl.
Cimade 2009: 200). Im Jahr 2009 entsprach die Anerkennungsrate (Sri Lanka,
Russland, Demokratische Republik Kongo, Türkei, Irak) doch teils den
antragsstärksten Ländern (vgl. OFPRA 2010: 32).
17 Die Anerkennungsrate meint hier die Anerkennung des Flüchtlingsstatus, sowie des temporären
Schutzes in Bezug auf die im jeweiligen Jahr getroffenen Entscheidungen.
Seite 52
Seit 2003 wurde der subsidiäre Schutz – zuvor als asile territorial 1998 eingeführt
und von der OFPRA kaum zuerkannt – im französischen Asylgesetz verankert.
Während den drei ersten Jahren nach der Einführung des subsidiären Schutzes
wurde dieser Status jedoch nicht umfangreich zuerkannt (Sohler 2009: 13).
Danach stieg die Verleihung des subsidiären Schutzstatus jedoch an: bezog sich
der Status 2007 noch auf 706, so waren es im Jahr 2008 1.793 Personen die
diesen Status erhielten. (OFPRA 2009: 30) Im Jahr 2009 diese Zahl, mit 2.449
Personen die einen subsidiären Schutzstatus erhielten, enorm angestiegen und
machte 23,6 % der insgesamt vergebenen Titel aus (OFPRA 2010: 32).
Zwischen den Mitgliedstaaten der EU ist ein deutlicher Unterschied bezüglich der
Anerkennungsraten zu verzeichnen. Im Jahr 2008 hatten Länder wie Polen (65%),
Litauen und Portugal (jeweils 64 %), Österreich (62 %) und Dänemark (58 %) die
höchsten Anerkennungsraten in erster Instanz. Währenddessen wurden in
Slowenien (3 %), Spanien (5 %), der Tschechischen Republik, Frankreich und
Rumänien (jeweils 16 %) die niedrigsten Anerkennungsraten vermerkt, wobei
Griechenland mit weniger als 1% die geringste Rate aufweist. Frankreich steht
somit innerhalb der EU, Anerkennungen von Asylanträgen erster Instanz
betreffend, mit einer Ablehnungsrate zwischen 80-90 % an hinterer Stelle. (vgl.
eurostat 2009: o.S.)
Frau Simone Fluhr kritisiert die Situation der niedrigen Asyl-Anerkennungsraten in
Frankreich folgendermaßen:
Ceci dit, il faut quand même préciser, que globalement, on va dire que 20 %
de personnes sont reconnues réfugiés et 80 % sont rejetés. Personnellement,
je trouve qu’il faut vraiment renverser la proportion pour être juste par rapport
à la situation rencontrée par nous. Ça choque, la France est un des pays les
plus protecteurs de l’espace européen, ce qui fait encore plus peur.18
(ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 122-126)
18 Zu Deutsch: Das heißt, man muss trotzdem präzisieren, dass man im Ganzen gesehen sagen
kann, dass 20 % der Personen als Flüchtlinge anerkannt werden und 80 % abgelehnt werden.
Persönlich finde ich, dass die Proportion eigentlich umgekehrt werden müsste, betrachtet man die
Situation, wie wir sie kennen. Das schockiert, Frankreich ist eines der produktionsreichsten Länder
im europäischen Raum, was umso beängstigender ist.
Seite 53
3.2 Bedeutende rechtliche und verwaltungspolitische Maßnahmen im
französischen Asylsystem
Grundsätzlich wurde die Einwanderungsfrage in Frankreich durch die
Wirtschaftskrise 1974 neu determiniert und die Zuzugskontrolle als
vordergründiges Ziel festgelegt. Die 1970er Jahre waren somit durch
Anwerbestopp und Rückkehrhilfen gekennzeichnet. Mit dem Amtsantritt
Mitterrands als Präsident im Mai 1981 fand allerdings eine Wende in der
französischen Einwanderungspolitik statt, in welcher, vor allem bis 1983, liberale
Maßnahmen – wie etwa die Legalisierung von und die erweiterte Einräumung von
sozialen und politischen Rechten für EinwanderInnen – durchgesetzt wurden19. Im
Jahr 1983 folgte indes der Durchbruch der Front National (FN) bei den
Kommunalwahlen und die liberalen Schritte der Sozialisten und Kommunisten
trafen in der Öffentlichkeit auf ihre Grenzen. Durch die Dominanz der FN in der
Einwanderungsthematik näherten sich die immigration policies der französischen
Parteien in den Folgejahren einander an, insbesondere um
Wählerabwanderungen zur FN hin zu verhindern. Es bildete sich also ein
überparteilicher Konsens heraus, dessen Tendenz deutlich in Richtung
restriktiverer Einreise- und Aufenthaltsmaßnahmen geht. (Rey 1997: 129-150)
Grundsätzlich herrschte in der französischen Asylpolitik über lange Zeit die
Tradition und ein gewisses Selbstverständnis über das Recht auf politisches Asyl,
was Frankreich den zugeschriebenen Titel „France, terre d’asile“ verschaffte (ebd.:
59). Bis 1980 war die Asylpolitik in Frankreich wenig umstritten. Mit dem Anstieg
der Antragszahlen gegen Ende der 1980er Jahre begann jedoch erstmals eine
umfassende Diskussion über eine Reform des französischen Asylrechts,
woraufhin erste Schritte diesbezüglich eingeleitet wurden (Dickel 2002: 209).
19 Dem französischen Präsidenten wird in der Präsidialverfassung der Fünften Französischen
Republik ein unmittelbarer Zugang zu jedem Bereich der Regierungspolitik eingeräumt. Dies führt
zu einer eher untergeordneten Rolle des Premierministers und kann zu gröberen Konflikten führen,
wenn die parlamentarische Mehrheit nicht von der Partei des Präsidenten gestellt wird und somit
eine cohabitation entsteht. Dies war der Fall von 1986-88 (Präsident Mitterrand von der PS mit
einer rechten Koalition aus UDF und RPR, Premierminister Chirac), 1993-95 (Präsident Mitterrand
von der PS und eine RPR-dominierte Rechtskoalition, Premierminister Balladur) und 1997-2002
(Präsident Chirac vom RPR, Premierminister Jospin von der PS). (vgl. Rey 1997: 129f)
Seite 54
Im Folgenden sollen einzelne asylrelevante Maßnahmen, welche das französische
Asylregime ab den 1980er Jahren maßgeblich beeinflusst und verändert haben,
sowie deren Gründe bzw. Begründungen durch die jeweilige Regierung und die
darauf folgenden Reaktionen näher beleuchtet werden.
3.2.1 Circulaire Fabius (1985)
Nach dem Erfolg der FN bei den Kommunalwahlen 1983 und der
Kabinettsumbildung im Sommer 1984, wollte der neue sozialistische
Premierminister Laurent Fabius die Öffentlichkeit durch diverse restriktivere
Maßnahmen im Einwanderungsbereich, ebenso durch die Reform des
Asylverfahrens, beeindrucken. Diese wurden jedoch aufgrund der Rücksicht auf
Wählerinteressen der Anhänger der Sozialistischen Partei letztlich großteils nicht
umgesetzt. (Rey 1997: 141) Am 17. Mai 1985 fand hingegen, durch einen
Runderlass (circulaire) Fabius‘, eine umfassende Regelung des Rechtstatus der
AsylwerberInnen statt. Jener Runderlass klärte auch die Möglichkeiten des
Präfekt, den Aufenthalt und die Transmission von AsylwerberInnen abzulehnen.
(Rey 1997: 61; CIMADE o.J.: o.S.)
Bedeutend am circulaire Fabius war zugleich, dass er den Asylansuchenden das
Recht auf Arbeit zusprach20. Mit der Einreichung des Asylantrags bei der OFPRA
erhielt der/die WerberIn ein certificat de dépôt de sa demande, welche ihm/ihr
ermöglicht, beim Präfekt eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung zu ersuchen.
Dabei erhält er/sie ein récépissée de demande de carte de séjour, die für drei
Monate gültig und, solange keine Entscheidung gefällt wurde, verlängerbar ist.
Durch diesen récépissée (Empfangsbescheinigung) wurde das Arbeitsrecht der
Asylansuchenden ermöglicht und geregelt. (Grémy 1991: 130). Ein Resultat dieser
Einräumung eines Rechts auf Aufenthalt und Arbeit durch den Runderlass vom
20
Zuvor, nach dem Machtwechsel 1981, schaffte die sozialistische Regierung unter
Premierminister Mauroy das Erfordernis einer Arbeitserlaubnis für AsylwerberInnen grundsätzlich
ab. Dies bedeutet, in Mitanbetracht der Einführung des Rechts auf Arbeit für AsylwerberInnen unter
Fabius, dass zu Beginn und gegen Mitte der 1980er Jahre diesbezüglich noch ein liberalerer Kurs
verfolgt wurde. (Dickel 2002: 207)
Seite 55
17. Mai 1985 war in der Folge ein weiterer Anstieg der Antragszahlen (Laacher
2008: 4).
3.2.2 Maßnahmen gegen die Überlastung des Asylsystems Ende der
1980er
Das Ende der 1980er und der Beginn der 1990er Jahre ist durch einen
signifikanten politischen Umbruch markiert. Das Ende des Kalten Krieges, die
zunehmenden Verarmung südlicher Länder und immer häufiger werdende lokalen
Krisen, wie Bürgerkriege und regionale Konflikte, trugen – neben dem in
Frankreich gültigen Arbeitsrecht für AsylwerberInnen – stark zum Anstieg der
Flüchtlingsmigrationsströme nach Frankreich bei. (vgl. Laacher 2008: 3f) Aufgrund
der enorm erhöhten Anzahl an Asylanträgen gegen Ende der 1980er und der
daraus resultierenden Überlastung der Asylbehörden, sowie der langen
Bearbeitungsdauer (etwa fünf Jahre) wurden zu jener Zeit erste Maßnahmen zur
Beschleunigung der Asylverfahren und zur Beschränkung durch deren
Charakterisierung als „offensichtlich unbegründete“ Anträge gesetzt. (Sohler 2009:
20)
Dabei sah sich die französische Regierung mehr oder minder gezwungen, eine
Reform des Asylsystems einzuführen, um nicht dem Druck der hohen
Antragszahlen und der damit verbundenen verwaltungstechnischen Probleme zu
erliegen. Um jene Probleme zu bewältigen, wurde finanziell und personell in die
OFPRA und die Berufungskommission, die Commission des recours des réfugiés
(CRR), investiert. Dementsprechend wurde die Zahl der Mitarbeiter in beiden
Institutionen von 99 im Jahr 1981 auf 513 im Jahr 1990 aufgestockt und das
Budget der OFPRA von 32,20 Mio. Franc im Jahr 1986 auf 151,70 Mio. Francs im
Jahr 1990 erhöht. Zur Beschleunigung und Rationalisierung des Asylverfahrens
wurden erstmals moderne Computertechnologien eingeführt, sowie seit 1989 die
Anwendung einer Fingerabdruckdatei, um Mehrfachanträge zu verhindern und
abgelehnte AsylwerberInnen einfacher zu finden. (Dickel 2002: 194f)
Seite 56
Die zur selben Zeit eingeführte Beschleunigung der Verfahren durch eine
vereinfachte Ablehnung „offensichtlich unbegründeter“ Anträge erweist sich
allerdings als problematisch, da Ansuchende nach verkürzter Prüfung und ohne
persönliche Befragung abgelehnt werden können (ebd.: 195). Prinzipiell betraf die
Einstufung als „offensichtlich unbegründet“ vier Fälle: mutmaßliche
Wirtschaftsflüchtlinge (jene die als Fluchtgrund nicht die Bedrohung im
Herkunftsstaat angeben können), AsylwerberInnen deren Dokumente bzw.
Berichte auf falschen Informationen beruhen, verspätet eingereichte Asylanträge
und die Existenz eines „sicheren Drittstaates“, wobei letzterer Fall die häufigste
Ablehnung als „offensichtlich unbegründet“ darstellt. (Rey 1997: 62) Letztendlich
kam es durch die eingeführten Schnellverfahren zu einer großen Zahl an
Ablehnungen von Asylanträgen Anfang der 1990er Jahre (Sohler 2009: 20).
Die französische Linke hatte nach Ende der cohabitation (1986-1988) – durch die
Wiederwahl Mitterrands zum Präsidenten und die Auflösung des Nationalrats,
wonach Mitterrand wieder eine Linksregierung an seiner Seite hatte – abermals
die Führungsposition inne. Sie kritisierten die von der rechten Regierung erzielten
restriktiven Maßnahmen im Einwanderungsbereich (so das Loi Pasqua von 1986),
setzten selbst jedoch mit der Einführung beschleunigter Asylverfahren nicht
weniger restriktive Maßnahmen. Die französische Linke saß sozusagen, die
Asylpolitik und die Einwanderungspolitik betreffend, noch zwischen den Stühlen.
Es zeichnete sich aber hier bereits ein Rechtsruck bezüglich des Diskurses und
der Maßnahmen der Linken ab, welcher sich in der Aufhebung der
Arbeitserlaubnis für AsylwerberInnen 1991 bestätigte. (vgl. Rey 1997: 146f)
3.2.3 Aufhebung der Arbeitserlaubnis für AsylwerberInnen (1991)
In Anbetracht der Reform des nun beschleunigten Asylverfahrens sollten die
Aufenthalte in den ebenso 1991 geschaffenen Heimen für AsylwerberInnen
(CADA) möglichst kurz gehalten werden. Dieser Logik entsprach folglich auch die
Abschaffung des freien Zugangs für AsylwerberInnen zum Arbeitsmarkt. (Sohler
2009: 20) Das Dekret, welches den Ausschluss von Asylsuchenden und somit ein
faktisches Arbeitsverbot für diese zur Folge hatte, wurde am 26. Mai 1991 von der
Seite 57
Regierung Cresson (PS) erlassen (Dickel 2002: 207). Diese Aufhebung wurde
durch keinerlei soziale oder finanzielle Hilfsmaßnahmen für AsylwerberInnen
kompensiert (Rey 1997: 62).
Für Frau Simone Fluhr stellt die Aufhebung der Arbeitserlaubnis eine der ersten
signifikanten restriktiven Einschnitte ins französische Asylrecht dar:
Un des grand changements était alors […] où on a enlevé le droit de travail
aux demandeurs d’asile, ça a fait en sorte que, durant toute la période
d’attente qui était à ce moment-là encore beaucoup plus longue qu’aujourd’hui
ça pouvait aller sur des années, ces personnes étaient complètement
dépendantes d’une prise en charge, qui ne pouvaient pas commencer à
devenir autonome, reconstruire une vie en attendant. […] C’était un grand
changement, parce que cette attente sans droits à rien, surtout pas à travailler
– c’est très important pour un père de famille de pouvoir se dire qu’il est
toujours père de famille et non pas de dépendre de l’humanitaire et des
services sociaux. Ça c’était un des premiers grands changements.21
(ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 31-43)
3.2.4 Einrichtung internationaler Transit- und Wartezonen sowie
Einführung von Sanktionen für Transportunternehmen (1992)
Mit dem Gesetz vom 26. Februar 199222
wurden Sanktionen für
Transportunternehmen eingeführt, welche Fremde ohne entsprechende
Dokumente nach Frankreich bringen. Jene Transportgesellschaften müssen
Bußgeld zahlen, sowie Kosten für Unterbringung und Rücktransport der/des illegal
Einreisenden übernehmen. Somit obliegt den Transportunternehmen
gewissermaßen eine erste Prüfung darüber, ob ein Antrag gültig sein könnte.
Faktisch entscheiden gegebenenfalls also Privatpersonen, die keine
21 Zu Deutsch: Eine der großen Änderungen war also […] als man das Recht der AsylwerberInnen
auf Arbeit aufgehoben hat, das hat sich so ausgewirkt, dass, während der ganzen Wartezeit, die zu
diesem Zeitpunkt noch viel länger war als heute, das konnte über Jahre dauern, diese Personen
vollkommen von Betreuung abhängig waren, sie konnten nicht beginnen selbstständig zu werden,
ein Leben wiederaufzubauen während der Wartezeit. […] Das war eine große Veränderung, weil
dieses Warten ohne Recht auf irgendwas, vor allem nicht auf Arbeit – es ist sehr wichtig für einen
Familienvater sich sagen zu können, dass er immer noch der Familienvater ist und nicht vom
Humanitären oder von Sozialbehörden abhängig zu sein. Das, das war eine der ersten großen
Veränderungen.
22 Loi n°92-190 du 26 février 1992 portant modification de l'ordonnance n° 45-2658 du 2 novembre
1945 modifiée, relative aux conditions d'entrée et de séjour des étrangers en France (siehe:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=LEGITEXT000006078788&dateTexte=2010
0228)
Seite 58
asylrechtlichen Verantwortungen besitzen, über die Abweisung einer/eines
PassagierIn und können daher die Stellung eines Asylantrags verhindern. (Rey
1997: 71)
Eine zweite bedeutende Neuerung vom Jahr 1992 stellt die Einrichtung von
internationalen Wartezonen an französischen See- und Flughäfen dar.
Ursprünglich war im diesbezüglichen Gesetzesentwurf vorgesehen, dass
AsylwerberInnen bis zur Entscheidung ihres Antrags in den Transitzonen
festgehalten werden dürfen. Der Conseil Constitutionnel (Verfassungsrat)
entschied allerdings, dass die Asylsuchenden nur solange festgehalten werden
können, wie es wirklich notwendig ist, um zu untersuchen, ob das Ansuchen
„offenbar unbegründet“ ist. (Dickel 2002: 197f)
Auch diese beiden Maßnahmen wirkten sich auf die Abnahme der Antragszahlen
aus (ebd.: 198). Die Linksregierung rechtfertigte die Einrichtung der
internationalen Wartezonen und die Kontrollen der Transportunternehmen mit den
Auflagen des SDÜ. Entsprechende französische Gesetze sind allerdings bereits in
Kraft getreten bevor ihre europarechtliche Grundlage, im Jahr 1996, in Frankreich
angewandt wurde. So zog die Linksregierung – und ab 1993 gleichermaßen die
Rechtsregierung – hier die europapolitische Ebene und die Notwendigkeit der
damit einhergehenden Verpflichtungen in der Einwanderungsfrage als
Begründung für restriktive nationale Maßnahmen heran. (Rey 1997: 147)
3.2.5 Loi Pasqua und Verfassungsänderung (1993)
Verbunden mit der Unterzeichnung des Schengener und des Dublin-Abkommens
wurde in Frankreich zu Beginn der 1990er Jahre erstmals die Debatte mit der
Frage nach der Verfassungskonformität asylrechtlicher Bestimmungen losgetreten
(Rey 1997: 66). Bereits direkt nach der Unterzeichnung des SDÜ durch die
Nationalversammlung, ließen 60 Abgeordnete der rechten Oppositionsparteien
das Gesetz vom Verfassungsrat auf seine Verfassungsmäßigkeit hin prüfen.
Seite 59
Gegenstand der Klage war der Verweis auf das konstitutionelle Asylrecht23,
welches jeder/m AsylwerberIn das Recht einräumt, seinen Antrag von der OFPRA
und der Berufungsbehörde prüfen zu lassen. Dieses Verfassungsrecht dürfe nicht
durch einen internationalen Vertrag aufgehoben werden. Daraufhin lehnte der
Verfassungsrat die Klage mit der Begründung ab, dass entsprechend Art. 29 Abs.
4 SDÜ dem jeweiligen Staat die Prüfung aufgrund nationaler Rechtsvorschriften,
auch wenn die Zuständigkeit bei einem anderen Staat liegen würde, freistehe.
(Dickel 2002: 198)
Die Parlamentswahlen im März 1993 führten zur zweiten cohabitation unter
Mitterrand, diesmal mit der RPR und der UDF. Die Regierung Balladur führte
gleich mehrere Maßnahmen in der Einwanderungspolitik, die auf die
systematische Begrenzung illegaler und auch legaler Zuwanderung abzielte –
beispielsweise durch die Erweiterung der Befugnisse der Verwaltung zur
vereinfachten Abschiebung. (Rey 1997: 148)
Schließlich wurde 1993 dem Verfassungsrat wiederum ein Gesetzesentwurf des
neo-gaullistischen Innenministers Pasqua (RPR) vorgelegt, in welchem unter
anderem vorgesehen war, dass AsylwerberInnen die Einreise nach Frankreich
verboten werden kann, wenn ein anderer Staat (dem Schengen- bzw. Dublin-
Abkommen entsprechend) zuständig ist, der/die AsylwerberIn in einem anderen
Staat sicheren Schutz finden kann, der/die AsylwerberIn eine Gefahr für die
öffentliche Ordnung darstellt, der Antrag auf falschen Informationen beruht bzw.
einen Missbrauch des Verfahrens darstellt. (Dickel: 199f) Der Verfassungsrat
entschied jedoch am 13. August 1993 über die Unzulässigkeit einer derartigen
Begrenzung der Einwanderung. Dabei verwies er abermals auf das in der
Verfassungspräambel festgeschriebene Recht, Asyl ansuchen zu dürfen. Daraus
ergab sich eine regelrechte Pflicht Frankreichs, Asylanträge zu prüfen. (Rey 1997:
67)
Diese Entscheidung führte zu ausdrücklicher Kritik in Regierungskreisen, da man
befürchtete, dass sich andere EU-Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung entziehen
23 Hierzu mehr in Kapitel 2.3.1 Asylrecht in der Verfassung
Seite 60
könnten, weil Frankreich ohnehin zur Prüfung von Anträgen verpflichtet wäre
(Dickel 2002: 201). Schließlich forderte Charles Pasqua eine Überarbeitung der
Verfassung, um das Schengen- und Dublinabkommen in das interne Recht zu
integrieren. In Übereinstimmung mit Präsident Mitterrand, ließ sich
Premierminister Balladur daraufhin vom Conseil d’Etat über die Konsequenzen
einer solchen Modifikation beraten, um zu klären, ob ein einfaches Gesetz
ausreichend wäre, um die gewünschte Aufteilung und Einhaltung der
Verantwortungen zur Prüfung von Asylanträgen (entsprechend Schengen- und
Dublinabkommen) zu gewährleisten. Der Conseil d’Etat antwortete daraufhin in
seiner Stellungnahme, dass ein einfaches Gesetz nicht genug, sondern eine
Verfassungsmodifikation notwendig wäre. (Fromont 1995: 1187) Der im Anschluss
erarbeitete Gesetzesentwurf löste im Parlament seitens der linken Parteien
enorme Kritik aus und man warf der Regierung vor, sie stoße in Gefilde der
extrême droite vor. Pasqua wiederum verteidigte den Entwurf mit dem Argument,
er diene zur Verhinderung illegaler Einwanderung im Rahmen des SDÜ, während
Balladur bekräftigte er diene als Maßnahme, um die große Anzahl ohnehin
„unbegründeter Anträge“ zu limitieren, wobei dies nicht gegen die Rechte der
AsylwerberInnen liefe. (Dickel 2002: 202)
Am 19. November 1993 wurde schließlich mit mehr als der notwendigen Drei-
Fünftel-Mehrheit (698 Stimmen für den Entwurf, 157 dagegen) die Verfassung
entsprechend geändert und somit gewissermaßen der vom Verfassungsrat
getroffenen Entscheidung entgegengearbeitet (Rey 1997: 69). Das angenommene
Gesetz fügte in Titel VI der französischen Verfassung den neuen Art. 53-1 ein:
(1) La République peut conclure avec les Etats européens qui sont liés par
des engagements identiques aux siens en matière d’asile et de protection des
Droits de l’homme et des libertés fondamentales, des accords déterminant
leurs compétences respectives pour l’examen des demandes d’asile qui leur
sont présentés. (2) Toutefois, même si la demande n’entre pas dans leur
compétence en vertu de ces accords, les autorités de la République ont
toujours le droit de donner asile à tout étranger persécuté en raison de son
action en faveur de la liberté ou qui sollicite la protection de la France pour un
autre motif.24 (Fromont 1995: 1188)
24 Zu Deutsch: (1) Die Republik kann mit anderen europäischen Staaten, die gleiche Bindung im
Bereich des Asylrechts und des Grund- und Menschenrechtsschutzes eingegangen sind,
Abkommen vereinbaren, die ihre jeweiligen Zuständigkeiten für die Prüfung der ihnen
unterbreiteten Asylanträge bestimmen. (2) Selbst wenn der Antrag gemäß dieser Abkommen nicht
in die Zuständigkeit der Behörden der Republik fällt, haben diese jedoch immer das Recht, jedem/r
Seite 61
Frankreich kann somit seither mit anderen europäischen Staaten, welche an
dieselben Bindungen im Bereich des Asylrechts sowie der Menschen- und
Grundrechte gebunden sind, Abkommen über die Prüfung von Asylanträgen
schließen. Statt der vom Verfassungsrat geforderten Verpflichtung Frankreichs zur
Prüfung von Anträgen entsprechend Art. 4 der Verfassungspräambel, tritt nun
entsprechend Abs. 2 der neuen Bestimmung eine Ermessensentscheidung, da
Frankreich grundsätzlich das Recht hat, im Falle eine Prüfung eines Asylantrags
zu übernehmen. (Dickel 2002: 202f)
Ferner wurde durch die Verfassungsänderung die vom Verfassungsrat zuvor als
verfassungswidrig erklärten Bestimmungen des Gesetzesentwurfs von Pasqua
wieder möglich, was schließlich zum Beschluss jenes Gesetzes am 30. Dezember
199325
führte. Von nun an war AsylwerberInnen, die sich auf das asile
constitutionnel berufen und für deren Verfahren ein anderer Schengen-
Unterzeichnerstaat zuständig ist, ein Antrag bei der OFRPRA und die damit
verbundene Einreise nach Frankreich (bzw. der weitere Aufenthalt an einer
internationalen Wartezone) verboten. (ebd.: 203)
3.2.6 Loi Chevènement (1998)
Mit dem Gesetz vom 11. Mai 199826 wurde erstmals durch Innenminister Jean-
Pierre Chevènement (MDC) ein vorübergehender Schutz für Flüchtlinge (asile
territorial) ins französische Asylrecht eingeführt. Das asile territorial bietet jenen
Personen entsprechend europäischer Menschenrechtskonvention Schutz, denen
in ihrem Herkunftsland im Falle einer Abschiebung Tod oder Folter drohen. In
diesem Sinne anerkannte Personen erhielten vorerst eine befristete Arbeits- und
Aufenthaltserlaubnis. (Currle 2004: 87) Die Prüfung über die Zuerkennung des
AusländerIn, der/die wegen seines Einsatzes für die Freiheit verfolgt wird oder der/die aus einem
anderen Grund den Schutz von Frankreich erbittet, Asyl zu gewähren. (vgl. Dickel 2002: 202)
25 Loi n°93-1417 du 30 décembre 1993 portant diverses dispositions relatives à la maîtrise de
l'immigration et modifiant le code civil (1) (siehe:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000362870&dateTexte)
26 Loi n°98-349 du 11 mai 1998 relative à l'entrée et au séjour des étrangers en France et au droit
d'asile (siehe:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000191302&dateTexte)
Seite 62
asile territorial unterlag den zuständigen Behörden, also den Präfekturen und dem
Innenministerium (Sohler 2009: 28).
Ebenfalls wurde, durch das gleiche Gesetz, von der Regierung unter
Premierminister Jospin (PS) das asile constitutionnel gesetzlich verankert. Dieses
gilt wie erwähnt für Personen, die aufgrund ihres Einsatzes für die Freiheit verfolgt
werden. Allerdings wurde mit der gesetzlichen Verankerung des asile
constitutionnel keine eindeutige Begriffsbestimmung über eine/n solchen
FreiheitskämperIn geschaffen, welche/r sich auf dieses Recht berufen kann.
(Dickel 2002: 203) Zudem wurde nur selten aufgrund dessen Asyl gewährt (Sohler
2009: 19).
Der Linksregierung unter Premierminister Lionel Jospin wurde von der Rechten,
insbesondere nach dem Regierungswechsel 2002 und dem Machtantritt der UMP,
Nachlässigkeit im Bereich der Einwanderungspolitik vorgeworfen. So
argumentierte die UMP beispielsweise, die Regularisierungsmaßnahmen unter
Jospin hätten die irreguläre Zuwanderung zusätzlich angetrieben. (Sohler 2009:
22)
3.2.7 Loi Sarkozy (2003)
Die UMP-Regierung fokussierte sich bereits seit 2002 auf die Steuerung der
Migrationsströme und die Bekämpfung irregulärer Einwanderung als Kernpunkte
ihrer Einwanderungspolitik. In der Folge stellten diese Aspekte auch einen
wichtigen Bestandteil der sicherheitspolitisch orientierten Kampagnen des
damaligen Innenministers Sarkozy dar. Das loi Sarkozy vom November 2003
wurde dementsprechend vom Innenminister unter diesen Gesichtspunkten forciert.
Diese Art der symbolischen Politik, bei der es darum geht Effektivität zu
signalisieren, ist ebenso im Kontext einer Abgrenzung zu den, als untätig
bezeichneten, sozialistischen Vorgängerregierungen einzubetten. (vgl. ebd.)
Seite 63
Das Gesetz vom 26. November 200327 erfolgte in der Praxis schließlich in
Verbindung mit der Abänderung der Verordnung vom 2. November 1945 bezüglich
der Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für Ausländer (Delouvin 2004: 5). Es
zielte primär auf Integrationsmaßnahmen und Maßnahmen zur Bekämpfung
illegaler Einwanderung ab. Um Letzteres zu erreichen wurden unter anderem eine
Kartei mit digitalen Fingerabdrücken und eine Lichtbildkartei der AusländerInnen
geschaffen, welche eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein Visum beantragen.
Außerdem wurden Sanktionen bei Scheinehen und Scheinvaterschaften
eingeführt. (vgl. Französische Botschaft 2006: o.S.)
Das Gesetz betrifft überwiegend die Einwanderung und Integration von
AusländerInnen generell, jedoch auch, spezifisch, den Bereich des französischen
Asylrechts. Neben der Verschärfung der Bedingungen zum legalen Aufenthalt,
verlängerte das Loi Sarkozy die maximale Dauer der Schubhaft auf von 12 auf 32
Tage (CIMADE 2009: 111). Ebenso wurde festgelegt, dass Personen, die in
Schubhaftzentren ankommen, sofort über ihr Recht Asyl anzusuchen informiert
werden müssen. Der Asylantrag muss innerhalb von fünf Tagen gestellt werden,
sonst wird er nicht angenommen. (ebd.: 115f)
Des Weiteren wurden 2003, einhergehend mit der Reform durch Sarkozy,
erstmals Quoten zur Abschiebung festgelegt. Der sicherheitspolitische Druck,
sowie polizeiliche Kontrollen nahmen enorm zu. Gegner sprechen von einem
Wahn der Zahlen, der sich negativ auf die Garantien von AsylwerberInnen
auswirke und seither die Zahl der Rückführungen Jahr für Jahr sichtlich stiegen
ließ. (Slama 2008: 65) Nach und nach wurden die Effekte des Gesetzes von 2003
auch bei den Asylanträgen merkbar. Diese gingen 2005 um 15 % zurück und 2008
um 38 %. (o.V. 2009: o.S.)
Frau Fluhr situiert die Errichtung der Abschiebungsquoten in der seit der gegen
Ende der 1980er begonnenen verhärteten Asylpolitik und beklagt diese
Quotenregelung wie folgt:
27 Loi n°2003-1119 du 26 novembre 2003 relative à la maîtrise de l'immigration, au séjour des
étrangers en France et à la nationalité (1) (siehe:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=LEGITEXT000005702743&dateTexte=2010
0222)
Seite 64
Et ces quotas d’expulsion à atteindre, une fois encore – un peu comme dans
les législations dont j’ai parlé avant – les demandeurs d’asile paient un prix
très, très fort. Pourquoi ? Parce que si on les renvoie ils risquent leur vie, c’est
pas seulement ‘ils perdent tout ce qu’ils avaient construit’ – ils risquent leur
vie. Deuxièmement, ce sont des personnes très faciles à localiser et à
contrôler et à arrêter, puisqu’ils font des démarches justement pour demander
l’asile, et ont besoin d’un hébergement parce qu’ils arrivent bien sûr sans
connaitre personne, donc ils sont très facile à arrêter […].28
(ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 57-64)
Kritiker beklagen, dass die Fünf-Tages-Regelung zur Stellung des Asylantrags ein
virtuelles Recht darstelle. Die Präfekturen, welche die in den Schubhaftzentren
gestellten Anträge an die OFPRA weiterleiten müssten, würden dies nicht in allen
Fällen tun. Dies läge vor allem daran, dass Anträge die in Schubhaft gestellt
werden, von den Präfekten zumeist als missbräuchlich angesehen würden29.
Ebenso hindere die Tatsache, dass Anträge auf Französisch gestellt werden
müssen und dass sich die Schubhaftzentren oft in der Peripherie befinden (was
die Anreise von oft ausgebuchten Übersetzern30), die Möglichkeit zur Einhaltung
dieser Frist auf signifikante Weise. (CIMADE 2009: 116)
3.2.8 Loi Villepin (2003)
Bereits am 14. Juli 2002 kündigte der französische Präsident Jacques Chirac eine
Reform31 des Asylsystems an. Im September 2002 präsentierte der damalige
Außenminister Villepin (UMP) die ersten großen Änderungen, die durch die
Reform – welche das Asylgesetz vom 25. Juli 1952 änderte – geplant waren.
28
Zu Deutsch: Und diese zu erreichenden Abschiebequoten, hier zahlen die AsylwerberInnen,
nochmals, einen sehr, sehr teuren Preis – ähnlich wie in den Gesetzen die ich zuvor erwähnt habe.
Warum? Weil, wenn man sie zurücksendet, riskiert man ihr Leben, es ist nicht nur ‘sie verlieren
alles was sie sich aufgebaut haben’ – sie riskieren ihr Leben. Zweitens, das sind Personen, die
sehr leicht lokalisierbar, kontrollierbar und sehr leicht festzunehmen sind, da sie eben ihre Schritte
machen müssen um Asyl anzufragen, und weil sie eine Unterkunft brauchen, da sie natürlich
ankommen ohne jemanden zu kennen, also sind sie sehr leicht festzunehmen […].
29
So wären beispielsweise von den 298 gestellten Anträgen im Schubhaftzentrum Mesnil-Amelot,
nach Informationen der gendarmerie nationale, nur 146 bei der Ofpra präsentiert worden. (CIMADE
2009: 116)
30
AsylwerberInnen müssen seit dem Dekret vom 30. Mai 2005 festgelegt die Kosten für
Übersetzer selbst übernehmen, was ein (zeitgerechtes) Ansuchen zusätzlich erschwert (Delouvin
2004: 5).
31 Loi n°2003-1176 du 10 décembre 2003 modifiant la loi n° 52-893 du 25 juillet 1952 relative au
droit d'asile (1). (siehe:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000611789&dateTexte)
Seite 65
(Delouvin 2004: 5) Zwar versuchte die französische Linksopposition das geplante
Gesetz zu verhindern, sie vermochte es aber nicht sich gegen die große Mehrheit
der Regierungsparteien durchsetzen (Hehn 2003: o.S.). Schließlich wurde am 10.
Dezember 2003 das französische Asylrecht von der konservativen UMP-
Regierung unter Premierminister Jean-Pierre Raffarin einer Reform unterzogen,
welche vornehmlich Bearbeitungszeiten von Asylanträgen verkürzte, eine neue
Definition des Flüchtlingsbegriffs einführte und die Struktur der beteiligten
Behörden modifizierte (Engler 2007: 5).
Da der verstärkte Anstieg von AsylwerberInnenzahlen in den Jahren zuvor zu
deutlichen Verlängerungen der Prüfungsdauer von Asylanträgen führte, zielte die
Reform darauf ab, die Kosten für die Aufnahme von AsylwerberInnen zu senken,
sowie das Asylverfahren an sich zu vereinfachen. Die Gesetzesbegründung war
also der Rückstau bei den Prüfungen und die lange Verfahrensdauer, was dazu
beitragen würde, dass Asylansuchen als ein Kanal zur irregulären Immigration
(sowie einem Untertauchen in die Illegalität) und somit missbräuchlich genützt
werden würde. Dementsprechend bezweckte man mit der Reform eine
Konzentration der Kompetenzen im Asylverfahren bei der OFPRA, wobei die
Zuständigkeiten zuvor geteilt waren und es zwei aufeinanderfolgende Verfahren
zur Anerkennung des Flüchtlingsstatus nach der GFK – durch OFPRA und CRR –
und zur Anerkennung des temporären Schutzstatus durch das Innenministerium
gab. (Sohler 2009: 27f) Folglich wurde, durch das Gesetz vom 10. Dezember
2003, die OFPRA die einzige administrative Stelle für alle Asylverfahren. Sie prüft
nun ob der/die AsylwerberIn die Bedingungen erfüllt, um den Flüchtlingsstatus
nach GFK zu erhalten und falls nicht, in einer zweiten Runde, ob der/dem
Ansuchenden subsidiärer Schutz gewährt werden kann. (Aubin 2009: 179)
Weitere Änderungen, die Gestaltung des Asylverfahrens betreffend, waren die
Einführung einer erweiterten Anwendung von verkürzten Verfahren, sowie die
Verkürzung der Antrags- und Berufungsfristen (Sohler 2009: 26f). Durch das
Dekret vom 14. August 2004 wurden die Fristen, also die Zeit die AsylwerberInnen
haben, um ihre Anfrage zu machen, schließlich faktisch gekürzt. Für normale
Verfahren gilt nun eine Frist von 21 Tagen, für eine procédure prioritaire (verkürzte
Verfahren) sind es 15 Tage, für einen Antrag, der von Schubhaft aus gestellt wird,
Seite 66
sind es fünf Tage und für einen Antrag auf neuerliche Prüfung acht Tage. (Cfda
2007, 6) Auch die von der Regierung vorgeschlagenen beschränkenden
Maßnahmen wurden mit in das Gesetz übernommen: so das Konzept sicherer
Herkunftsregionen32
und das Konzept des internen Schutzes, welche es
ermöglichen AsylwerberInnen (schneller) abzulehnen, die zuvor noch Asyl
erhalten hätten können (Delouvin 2004: 5).
Die nun erweiterte Anwendung von verkürzten Verfahren wurde stark kritisiert, da
diese keine angemessene Prüfung von Anträgen sicherstelle. In einem verkürzten
Verfahren erhält der/die Asylsuchende keinen entsprechenden Aufenthaltstitel. Die
Verkürzung der diesbezüglichen Antragsfrist von 15 Tagen, die Tatsache, dass
AsylwerberInnen in verkürzten Verfahren keinen Zugang zu spezifischen sozialen
Dienstleistungen besitzen und dass die Berufung gegen eine OFPRA-
Entscheidung in diesen Fällen keine aufschiebende Wirkung hat (der/die
AsylwerberIn also noch während der Überprüfung abgeschoben werden kann)
wirken sich restriktiv auf den Zugang zum und den Garantien des französischen
Asylsystem aus. Insbesondere AsylwerberInnen aus den, durch das Gesetz vom
10. Dezember 2003 eingeführten, sicheren Herkunftstaaten33 fallen von diesem
Zeitpunkt an in ein solches verkürztes Verfahren. (Cfda 2007: 3f)
Die Einführung neuer Definitionen von Anerkennungs- und Schutzbestimmungen
durch das Gesetz betrifft die Anerkennung einer Verfolgungshandlung durch nicht-
staatliche AkteurInnen und die Möglichkeit nicht-staatlicher Schutzautoritäten,
wobei letzteres bedeutet, dass auch andere AkteurInnen, anstelle des Staates,
dessen Schutzfunktion übernehmen können (Sohler 2009: 28). Außerdem wurde
neben den oben erwähnten Konzepten des internen Schutzes und der sicheren
Herkunftsländer durch das Gesetz vom 10. Dezember 2003 das Konzept des
subsidiären Schutzes in das französische Asylrecht aufgenommen, was wiederum
32
Am 30. Juni 2005 wurde von der OFPRA erstmals eine Liste mit 12 „sicheren Herkunftsstaaten“
erstellt. Diese wurde am 3. Mai 2006 um sechs Länder erweitert (Cfda 2007: 4). Die Liste umfasst
folgende Länder: Armenien, Benin, Bosnien-Herzegowina, Cap-Verde, Kroatien, Ghana, Indien,
Madagaskar, Mali, Mazedonien, Mauritius, Mongolie, Senegal, Serbien, Tanzania, Türkei, Ukraine
(Ofpra 2009 a: o.S.).
33 Die tatsächliche Sicherheit dieser „sicheren Herkunftsländer“ sei laut Kritikern allerdings
fragwürdig, da einige Länder auf der entsprechenden Liste von internen Krisen gekennzeichnet
sind, Genitalverstümmelungen praktiziert werden und in einigen auch die Todesstrafe nicht
endgültig abgeschafft ist (Cfda 2007: 4).
Seite 67
jenes des temporären Schutzes (asile territorial, 1998 eingeführt) ablöste. Bei der
Verfassung des subsidiären Schutzkonzepts verwies man auf entsprechenden
Richtlinien-Vorschlag34 auf Ebene der Europäischen Union. (Delouvin 2004: 16)
Ein Resultat des Gesetzes vom Dezember 2003 war ein erneuter erheblicher
Rückgang bei den Antragszahlen in den vier Folgejahren35. (Aubin 2009: 176)
Kritiker des Gesetzes bemängeln dementsprechend vor allem die prekärisierende
und abschreckende Wirkung der verkürzten Verfahren, der Liste sicherer
Herkunftsländer, der Kürzung der Antragsfristen sowie den sich anbahnenden
Missbrauch des subsidiären Schutzstatus als Ersatz eines tatsächlichen
Flüchtlingsstatus nach GFK (Cfda 2007: 1-10). Ebenso wurde seitens
Asylrechtsorganisationen darauf verwiesen, dass die Liste sicherer
Herkunftsländer gegen Artikel 3 der GFK liefe, welcher von den
Unterzeichnerstaaten in Sachen Herkunftsländer eine diskriminationsfreie
Anwendung der Konvention fordert (Delouvin 2004: 20).
3.2.9 Loi Sarkozy II (2006)
Das auch loi Sarkozy II genannte Gesetz vom Juli 200636 folgt derselben Logik
wie jenes vom 26. November 2003, nämlich jener der immigration choisie, welche
darauf abzielt, Migration nach Frankreich unter anderem hauptsächlich nach dem
Aspekt des wirtschaftlichen Nutzens der MigrantInnen zu steuern
(Chou/Hall/Baygert 2007: 4). Das Immigrations- und Asylgesetz 2006 und die
diesem vorangehenden Debatten rund um immigrationspolitische Neuerungen
waren demgemäß bereits in der Anfangsphase des Wahlkampfs des damaligen
Innenministers Nicolas Sarkozy für die Präsidentschaftswahlen 2007 Teil dessen
Wahlkampfstrategie und dementsprechend breit thematisiert. Vor dem Hintergrund
sozialer Proteste und politischer Auseinandersetzungen wurde der von Sarkozy im
Februar 2006 vorgelegte Gesetzesentwurf schließlich im Parlament am 17. Mai,
34 Siehe Kapitel 2.2.9 Qualifikationsrichtlinie (2004)
35 Von 50.547 Erstansuchen im Jahr 2004, in welchem das Gesetz in Kraft trat, auf 42.578 im Jahr
2005 und auf 26.269 im Jahr 2006 (Aubin 2009: 176).
36 Loi n°2006-911 du 24 juillet 2006 relative à l'immigration et à l'intégration (1) (siehe:
http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000266495&dateTexte)
Seite 68
mit der Mehrheit der UMP, beschlossen. (Sohler 2009: 29) Sarkozy übernahm mit
dem Gesetz Ansätze der Linken, zieht jedoch damit das Publikum der extrême
droite an:
Avec "l'immigration choisie", il vend à l'électeur une ouverture à l'immigration
de travail qui satisfait les entreprises, en échange d'un ciblage de la
"mauvaise" immigration pourtant légale et contrôlée, venue de Méditerranée
ou d'Afrique. Les lois de 2006 sont la première illustration - partielle - de sa
nouvelle approche, car M. Sarkozy n'a pas réussi à convaincre complètement
MM. Chirac et Villepin (o.V. 2009: o.S.).37
Die primäre asylrelevante Veränderung durch das Gesetz ist die Umgestaltung
des Aufnahmesystems für AsylwerberInnen. Dazu gehört die Neuregelung der
finanziellen Unterstützung für AsylwerberInnen, sowie die Regelung über die
Zulassung zu den Asylheimen CADA. (Sohler 2009: 29)
Die CADA waren bis zum Juli 2006 noch eine Art Resozialisierungs-Zentren
(centres d’hébergement et de réinsertion sociale – CHRS), die allerdings ein
spezifisches Publikum, deren Aufenthaltsrecht betreffend, hatten. Mit dem Gesetz
vom 24. Juli wurden die CADA mit einem eigenen rechtlichen Statut ausgestattet
und zwar mit dem Ziel, dass diese nur für die in Frankreich aufhältigen
AsylwerberInnen zuständig sind. (Aubin 2009: 185f) Dabei ist die Zulassung auf
AsylwerberInnen mit vorläufigem Aufenthaltsrecht limitiert, was bedeutet, dass
AsylwerberInnen, die sich in einem verkürzten Verfahren, oder einem Dublin-
Verfahren befinden von den CADA ausgeschlossen sind. Damit wurden erstmals
die Zugangskriterien zu den Asylheimen und die Verwaltungspraxis weitgehend
verrechtlicht. (Sohler 2009: 30)
Zudem wurde durch das Gesetz vom Juli 2006 die staatliche Kontrolle in den und
über die Heime(n) verstärkt. Nicht nur der Zugang ist nun nur noch den
AsylwerberInnen mit vorläufigem Aufenthaltstitel vorbehalten, sondern auch die
37
Zu Deutsch: Mit der „gewählten Immigration“, verkauft er dem/der WählerIn eine Öffnung zur
Arbeitsimmigration, die die Unternehmen zufriedenstellt, im Ausgleich zu einer Zielmarktfestlegung
einer „schlechten“ Immigration, die dennoch legal und kontrolliert ist und aus dem Mittelmeergebiet
und Afrika kommt. Die Gesetzte von 2006 sind die erste – teilweise – Bildhaftmachung seiner
neuen Herangehensweise, da Herr Sarkozy es nicht geschafft hat, Herrn Chirac und Villepin
komplett zu überzeugen.
Seite 69
Dauer der Betreuung in den CADA nach der Entscheidung wird von staatlicher
Seite aus bestimmt. Ebenso wurden Druckmittel bzw. Sanktionen geschaffen, wie
etwa der mögliche Entzug der Ermächtigungen der CADA. (Cfda 2007: 13f) Die
Unterbringungsform der CADA gilt nun als vorrangig, weshalb diese um 4.000
Plätze in weniger als zwei Jahren aufgestockt wurden (Aubin 2009: 185).
Gleichzeitig wurde die bisherige Wahlfreiheit der AsylwerberInnen die
Unterkunftform betreffend erstmals stark eingeschränkt. Das Finanzgesetz von
2006 schuf die Basis für die Auflösung der Wahlfreiheit, indem es die sogenannte
allocation d’insertion durch die allocation temporaire d’attente (ATA) ersetzte.
Früher stand AsylwerberInnen, die keinen Platz in einem CADA, sondern eine
andere Wohnmöglichkeit annehmen wollten, eine auf ein Jahr limitierte finanzielle
Unterstützung (allocation d’insertion) zu. (Cfda 2007: 11f) Da allerdings ein
Mangel an staatlichen Unterbringungsplätzen in den CADA vorherrschte, war dies
bereits zuvor oft nur eine theoretische Wahlfreiheit und viele AsylwerberInnen
waren somit auf die Wahl der finanziellen Unterstützungsleistung angewiesen.
Durch die Reform der CADA, sowie der nun festgelegte vorrangige Unterbringung
in diesen, wird jenen AsylwerberInnen, die einen zugewiesenen Heimplatz
ablehnen, die ATA entzogen. AsylwerberInnen erhalten die ATA folglich nur mehr
während der Wartefrist bis zur Unterbringung in einem CADA. (Sohler 2009: 30)
Ebenso fand eine deutliche Verschiebung der Entscheidungskompetenzen über
die Zulassung von AsylwerberInnen zu den CADA statt, indem NGOs
Mitbestimmungsmöglichkeiten entzogen und staatliche Behörden in ihren
Kompetenzen gestärkt wurden. So übertrug man der staatlichen Behörde Agence
nationale de l'accueil des étrangers et des migrations (ANAEM) die Koordination
der Aufnahme und den Präfekturen die alleinige Entscheidungsbefugnis über
Zulassung und Aufnahmestopp in den CADA. Parallel dazu wurden die
gemeinsamen Kommissionen, in welchen für den Betrieb der CADA zuständige
NGOs und staatliche Behörden zusammen Entscheidungen über die Aufnahme
von AsylwerberInnen in den Asylheimen trafen, abgeschafft. (ebd.: 31) Im selben
Jahr noch (November), sowie 2007 (März, Mai) wurden entsprechende Dekrete
erlassen, welche den Präfekturen definitiv die im Gesetz zugesprochenen
Kompetenzen übertrugen (CIMADE o.J.: o.S.).
Seite 70
3.2.10 Einrichtung des Ministère de l'immigration, de l'intégration, de
l'identité nationale et du co-développement/développement
solidaire (Mai 2007)
Im Mai 2007 wurde auf Antrieb von Präsident Sarkozy und Premierminister
François Fillon (UMP) das Ministerium für Immigration, Integration, nationale
Identität und Ko-Entwicklung (später solidarische Entwicklung) geschaffen,
welches von diesem Zeitpunkt an, unter anderem, für den Bereich Asyl zuständig
ist. Das Ministerium beschäftigt sich, wie der Name sagt, seither vordergründig mit
dem Management von Migrationsströmen, der Integration von Ausländern mit
Aufenthaltstitel, der Unterstützung von Herkunftsländern (was wiederum an die
Steuerung von Migration gebunden ist) und die – oftmals umstrittene – Förderung
und Unterstützung der nationalen Identität. (vgl. immigration.gouv.fr 2008 b: o.S.)
Zuvor auf verschiedene Ressorts aufgeteilt, umfasst das Ministerium seither deren
migrations- und asylpolitischen Agenden. Dazu gehören Zuständigkeiten im
Bereich der Einreise- und Migrationskontrolle und zur Rückkehrpolitik (zuvor beim
Innenressort), sowie Integrationsagenden (zuvor beim Sozialressort). (Sohler
2009: 39)
Diese „Vermengung“ von migrations- und asylpolitischen Agenden wird von
diversen Seiten beklagt – so meint auch Frau Fluhr, dass die Einrichtung dieses
Ministeriums im Zeichen einer Politik steht, die Migrationskontrolle und das Recht
auf Asyl miteinander verwechsle:
Absolument, mais ça c’est même, quand vous regardez les législations vous
voyez que tout est confondu, c’est toujours sous le même chapeau qui est
quelque part la lutte contre l’immigration clandestine, d’emblée, d’emblée – on
est plutôt dans quelque chose de l’ordre, d’une gestion des flux, des contrôles
policiers aux frontières, voilà, bon – et pas dans la protection.38
(ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 157-161)
38 Zu Deutsch: Auf jeden Fall, aber das ist sogar, wenn Sie die Gesetze ansehen, sehen Sie, dass
alles durcheinandergebracht wird, es passiert immer unter demselben Vorzeichen, welches
gewissermaßen der Kampf gegen die irreguläre Immigration ist, auf Anhieb, auf Anhieb – man
befindet sich hier vielmehr in einem Rahmen der Ordnung, einem Management von
Migrationsströmen, den Polizeikontrollen an den Grenzen eben – und nicht im Rahmen des
Schutzes.
Seite 71
Durch das Gesetz vom 20. November 2007 wurde die OFPRA schließlich dem
Ministerium zugeordnet, was abermals zum Vorwurf der Verwechslung zwischen
dem Bereich der Immigration und dem Recht auf Asyl führte (Aubin 2009: 193).39
3.2.11 Loi Hortefeux (2007)
Das Immigrations- und Asylgesetz 200740, auch Loi Hortefeux genannt, wurde auf
Initiative des damaligen Immigrationsministers Brice Hortefeux (UMP) vorbereitet
und im September 2007 in den Parlamentsausschüssen diskutiert. Mit der Wahl
Sarkozys zum Präsidenten, der Regierungsbildung und dem Wahlsieg der UMP
bei den Legislativwahlen, verfügte die UMP weiterhin auch im Parlament über die
absolute Mehrheit. Immigrationspolitische Themen blieben demnach – dem
Wahlkampf Sarkozys entsprechend – ebenso für die neue Regierung von großer
Bedeutung. (Sohler 2009: 31f) In seiner Rede vom 18. September 2007 machte
der neue Immigrationsminister seine migrationspolitische Nähe zu Sarkozy, sowie
den Abstand der UMP zur 2002 beendigten Migrationspolitik der Linksregierung
abermals deutlich:
Cette rupture a été amorcée depuis 2002 : nous sommes sortis du chaos
migratoire. A son arrivée au ministère de l'intérieur, en mai 2002, Nicolas
Sarkozy a trouvé une situation incohérente. La politique de régularisation
massive mise en œuvre par le gouvernement de M. Jospin en 1997 avait
produit un vigoureux appel d'air.41 (Hortefeux 2007: o.S.)
Letztendlich wurde das Gesetz am 23. Oktober 2007, trotz der Einsprüche der
Opposition und des Verfassungsrates, vom Parlament beschlossen. Zuvor wurde
es, begleitet von wochenlangen Debatten, von den Oppositionsparteien PS und
Modem (Mouvement démocrate) vor dem Verfassungsrat angefochten – dabei
insbesondere die vorgesehenen DNA-Tests. Dieser erklärte das Gesetz aber als
39 Siehe hierzu auch Kapitel 2.3.3 Kompetenzen: OFPRA und Cour Nationale du droit d’asile
(CNDA)
40 Loi n°2007-1631 du 20 novembre 2007 relative à la maîtrise de l'immigration, à l'intégration et à
l'asile (1) (siehe: http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000524004)
41 Zu Deutsch: Dieser Bruch wurde seit 2002 begonnen: wir sind aus dem Chaos der Migration
ausgebrochen. Bei seiner Ankunft im Innenministerium, im Mai 2002, fand Nicolas Sarkozy eine
inkohärente Situation vor. Die massive Regularisierungspolitik, die im Jahr 1997 von Lionel Jospin
durchgeführt wurde, haben einiges aufgewirbelt.
Seite 72
verfassungskonform und lehnte nur die geplante Erhebung ethnischer Kriterien für
statistische Studien ab. (Sohler 2009: 33)
Primär wurde durch das Gesetz der Zugang für Familienangehörige beschränkt,
indem Integrationskriterien, wie Sprach- und Landeskenntnisse und der Erhöhung
der Einkommensgrenzen, restriktiver gefasst wurden42 (ebd.: 32). Das Asylrecht
betreffend, war vor allem die Änderung des Zulassungsverfahrens von
AsylwerberInnen an der Grenze von Bedeutung. Asylsuchenden konnte zuvor
faktisch die Einreise nach Frankreich verwehrt werden und gleichzeitig hatte ein
Berufungsverfahren für sie keine aufschiebende Wirkung – AsylwerberInnen
konnten folglich noch während des Verfahrens abgeschoben werden. Diese
Tatsache führte zu einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte und wurde durch das Immigrations- und Asylgesetz von 2007
reformiert. (OECD 2008: 242) Schließlich wurde per Dekret vom 15. Juli 2008
durch die Regierung Fillon ein neues Berufungsrecht – mit aufschiebender
Wirkung der Berufung – für AsylwerberInnen an der Grenze umgesetzt (Aubin
2009: 186f).
Zu den asylrechtlichen Änderungen durch das Immigrations- und Asylgesetz 2007
zählt weiter die Verlagerung der Asylagenden in den Kompetenzbereich des
Immigrationsministeriums. Bislang war das Außenministerium hierfür zuständig
und die OFPRA diesem unterstellt. Seit dem loi Hortefeux ist die OFPRA beim neu
geschaffenen Immigrationsministerium angesiedelt. (Aubin 2009: 193) Der
Großteil der im Asylbereich tätigen NGOs waren gegen diese Verlagerung der
Asylagenden zum Immigrationsministerium, da sie in diesem Kontext eine
verstärkte Unterordnung des Flüchtlingsschutzes unter Agenden, die auf die
(vornehmlich polizeiliche) Kontrolle von Sicherheit und Migration abzielen,
annahmen. (Sohler 2009: 33) So beschrieb die Coordination francaise pour le droit
42 Ebenso einigte man sich beim Gesetz auf eine limitierte Anwendung von DNA-Tests. Die
Debatte um den viel kritisierten Abänderungsantrag des UMP-Abgeordneten Mariani zur
Einführung von DNA-Tests bezüglich des Familiennachzugs in bestimmten Fällen führte zu großer
Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und stand u.a. im Mittelpunkt des Immigrationsgesetzes. In
einer paritätischen gemischten Kommission fand letztlich eine Einigung über deren eingeschränkte
Anwendung statt. (Aubin 2009: 32f)
Seite 73
d’asile (Cfda)43 die Befürchtung einer Vermengung von Immigrationspolitik und
Asylrecht durch die Kompetenzverlagerung zum Immigrationsministerium in ihrem
Bericht folgendermaßen:
Si nous laissons faire, la confusion volontairement entretenue entre asile et
immigration et la négation de la spécificité de la demande d’asile et du
traitement qu’elle exige trouverait donc là sa traduction politique et
opérationnelle dont il est à craindre qu’elle serait irréversible […]44 (Cfda 2007:
20)
Eine weitere institutionelle Änderung im Asylbereich stellte, neben der oben
genannten Kompetenzverlagerung, die Umwandlung der Berufungskommission
CRR in einen nationalen Asylgerichtshof (CNDA45) dar (Sohler 2009: 35).
3.2.12 Resümee
Insgesamt lässt sich anhand der Entwicklung des französischen Asylrechts vor
allem seit Ende der 1980er Jahre eine grundlegende Verhärtung erkennen.
Zunehmend wurden und werden der Zugang zum französischen Asylsystem
erschwert und asylrechtliche Garantien eingeschränkt. In der politischen
Argumentation werden die sicherheitspolitische Orientierung, sowie die Logik der
immigration choisie der im Asylbereich getroffenen Maßnahmen immer deutlicher.
Allerdings fand im Laufe der Jahre auch eine Anpassung an gesellschaftlich und
asylrechtlich notwendig gewordene Anforderungen statt, sowie etwa die
Einführung des asile territorial
1998 und die Anerkennung von
Verfolgungshandlungen nicht-staatlicher Akteure 2003.
Auch Frau Simone Fluhr bewertet die Lage auf ähnliche Weise, wenn sie als einen
ersten großen Wendepunkt im französischen Asylrecht die Aufhebung der
43
Die CFDA ist eine rund 20 Organisationen im Flüchtlingsbereich umfassende – als
Koordinationsstelle dienende – Organisation, welche öffentlich zu asylrelevanten Fragen und
Diskussionen Stellung nimmt. Zu ihren Mitgliedern zählen unter anderem die französische Sektion
von Amnesty International, GISTI und Cimade. (Cfda o.J.: o.S.)
44
Zu Deutsch: Wenn wir es so zulassen, wird die absichtlich angewandte Verwechslung zwischen
Asyl und Immigration und die Verneinung der Spezifität des Asylantrags und die dadurch
notwendige Bearbeitung folglich genau dort seine politische und operationelle Anwendung finden,
wo zu befürchten ist, dass sie unwiderruflich sein wird.
45 Siehe hierzu auch Kapitel 2.3.3 Kompetenzen: OFPRA und Cour Nationale du droit d’asile
(CNDA)
Seite 74
Arbeitserlaubnis für AsylwerberInnen (1991) erwähnt und anschließend
argumentiert, dass von diesem Zeitpunkt an eine zunehmende Verschärfung der
Asylpolitik stattfand:
Le deuxième, c’est qu’on a remarqué un durcissement dans les différentes
législations successives, où il y avait toujours un mélange dans la législation
en tout ce qui était immigration clandestine, en général – et dedans la
demande d’asile. […] Mais on a toujours considéré que le problème des
demandeurs d’asile était le même que toutes les autres formes de migration.
Et, donc, c’est quand même des législations essentiellement basées sur le
contrôle de frontières, sur l’évitement que les gens arrivent jusqu’au territoire
européen et français, et ça aussi, c’est préjudiciable au sens même de la
Convention de Genève.46 (ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 43-53)
Zu Beginn der 1980er Jahre war, unter Präsident Mitterrand und der ihm zur Seite
stehenden Linksregierung, noch ein vergleichsweise liberaler Kurs in der
Asylpolitik und -gesetzgebung erkennbar. Einerseits forderte der Anstieg der
Antragszahlen zu jener Zeit einige, auch administrative, Maßnahmen, um mit der
Überlastung des französischen Asylsystems umgehen zu können. Andererseits
bedingte der Erfolg der FN bei den Kommunalwahlen 1983 einen generellen
Rechtsruck der klassischen französischen Parteien und somit einen restriktiveren
Kurs in der Asylpolitik. Jener Kurs wurde demgemäß seit Mitte der 1980er von der
französischen Rechten und der Linken – wenn auch nicht mit gleicher Ausprägung
– verfolgt. Allerdings kann, wie diskutiert wurde, bemerkt werden, dass unter
konservativen/rechten Regierungen strengere Maßnahmen in der Asylpolitik und
-gesetzgebung gesetzt wurden. So meint auch Frau Fluhr: „Mais, il est quand
même notable que tout est beaucoup plus dur depuis l’arrivée de la droite, en 95
et surtout depuis l’arrivé de Monsieur Sarkozy plus tard.“47 (ExpertInneninterview
Fluhr 2010, Zeile 89-91).
Seit den 1990er Jahren und der einsetzenden europäischen Harmonisierung der
Politiken wird erkennbar, dass gesetzte asylpolitische Maßnahmen mit dem
46
Zu Deutsch: Das Zweite, was man bemerkt hat, ist eine Verschärfung in den verschiedenen
darauffolgenden Gesetzen, wobei stets eine Vermischung in der Gesetzgebung gegeben war,
bezüglich allem was irreguläre Immigration betraf, generell – und darunter der Asylantrag […] Aber
man hat immer angenommen, dass das Problem der AsylwerberInnen das gleiche ist, wie alle
anderen Formen der Migration. Und somit, es sind doch Gesetze die grundsätzlich auf der
Kontrolle der Grenzen, dem Verhindern des Ankommens der Leute auf dem europäischen und
französischen Territorium basieren, und auch das ist abträglich, sogar im Sinne der GFK.
47 Zu Deutsch: Aber es ist nichtsdestotrotz auffällig, dass alles sehr viel schwieriger ist, seit dem
Einzug der Rechten, 1995, und vor allem seit dem Einzug von Monsieur Sarkozy später.
Seite 75
Argument einer Anpassung an die EU-Ebene begründet werden. Dies ist jedoch
ebenso der Fall, wenn Frankreich dabei gegebenenfalls der EU zuvorkommt, etwa
bezüglich der Einrichtung internationaler Transit- und Wartezonen und der
Einführung von Sanktionen für Transportunternehmen 1992. Die
Verfassungsänderung im Jahr 1993, welche es Frankreich erlaubt Zuständigkeiten
von Asylverfahren über Abkommen zu regeln und die Prüfung von Asylanträgen
zu Ermessensentscheidungen macht, fällt ebenfalls in die Logik einer der EU
anzupassenden Asylpolitik.
Mit dem Regierungswechsel 2002 und dem Wahlsieg der UMP trat schließlich
eine sichtbare Wende in der französischen Asylpolitik ein. Die UMP-Regierung
warf der Linksregierung unter Jospin Müßiggang in Sachen Einwanderungspolitik
vor und war fortan Initiator gleich mehrerer Immigrations- und Asylrechtsreformen.
Diese waren zu einem großen Teil restriktiver Art. So wurden beispielsweise
Asylverfahren weiter beschleunigt, Antrags- und Berufungsfristen verkürzt und
eine Liste sogenannter sicherer Herkunftsländer angefertigt. Allerdings handelt es
sich bei der Entwicklung seit 2002 und der seitherigen Dominanz der UMP nicht
etwa um einen Paradigmenwechsel der französischen Asylpolitik und -
gesetzgebung. Vielmehr wurde der Trend, der seit Mitte der 1980er Jahre
erkennbar ist, verstärkt und mit signifikant erhöhter Initiative weiterverfolgt.
Meilensteine auf administrativer Ebene waren insbesondere die Einrichtung des
Immigrationsministeriums und die Ansiedlung der OFPRA bei dieser, sowie die
Schaffung des CNDA im Jahr 2007.
3.3 Französische und europäische Asylpolitik: Verantwortlichkeiten und
Ergänzungen
Innerhalb der EU sind Flucht und Asyl jene Bereiche, die am meisten reguliert sind
(Bendel 2009, 125). In Kapitel 2.2 wurden bereits die zahlreichen Maßnahmen und
Richtlinien auf Ebene der europäischen Asylpolitik, die der Harmonisierung und
schließlich auch der Schaffung eines gemeinschaftlichen europäischen
Asylsystems dienen sollen, erläutert. Bisher wurde klar, dass die Asylpolitik
sowohl auf französischer, als auch auf europäischer Ebene immer stärker
Seite 76
sicherheits- und kontrollpolitisch orientierte Tendenzen aufweist. In diesem
Abschnitt soll in der Folge diskutiert werden, inwiefern die französische die
europäische Asylpolitik beeinflusst und umgekehrt.
3.3.1 Die Schengener und Dublin-Abkommen und der Vertrag von
Maastricht: Die französische Asylpolitik zwischen Konformität und
Souveränitätsängsten
Bereits gegen Ende der 1980er Jahre kann in einigen EG-Mitgliedstaaten ein
Trend hin zu einer beschränkenden Flüchtlingspolitik festgestellt werden, was sich
hauptsächlich durch den Anstieg der AsylwerberInnenzahlen begründen lässt.
Maßnahmen diesbezüglich betrafen insbesondere die Anwendung beschleunigter
Verfahren, wenn Asylanträge als offensichtlich unbegründet eingestuft wurden
oder wenn AsylwerberInnen bereits in einem Erstasylland Schutz gefunden hatten.
Somit konnten AsylwerberInnen teils von der Asylgewährung ausgeschlossen,
teils direkt an der Grenze abgewiesen werden. Diese, von einzelnen Staaten
getroffenen Schritte laufen den faktischen Harmonisierungsbestrebungen im
Bereich der Asylpolitik auf EU-Ebene vor. (vgl. Weinzierl 2005: 142, 145) Auch in
Frankreich lässt sich der Trend der Einrichtung beschränkender Bestimmungen im
Asylbereich Ende der 1980er bestätigen: es erfolgten erste Maßnahmen zur
Beschleunigung der Asylverfahren und zur Ablehnung von Anträgen als
offensichtlich unbegründet. (vgl. Sohler 2009: 20)
Die Abkommen von Schengen und Dublin und der Maastrichter Vertrag stellen
schließlich die ersten großen Harmonisierungs- und Kooperationsschritte im
Bereich des Asylrechts auf EU-Ebene dar. Die Tatsache, dass durch das SDÜ und
das Dublin-Abkommen die Zuständigkeiten der Prüfung der Asylanträge den
Erstaufnahmeländern zugeteilt wurden, dürfte für Frankreich faktisch vorteilhaft
sein, weil es nur selten das Ersteinreiseland für süd-ost-europäische oder etwa
afrikanische Zuwanderer darstellt. Da Frankreich seit Mitte der 1980er mit seiner
Asylpolitik primär der Bekämpfung illegaler Einwanderung folgt und die
Schengener und Dublin-Abkommen diverse Kontrollmaßnahme diesbezüglich
regeln, lässt sich vermuten, dass jene Bestimmungen auf europäischer Ebene den
Seite 77
französischen Zielsetzungen zugutekommen. (vgl. Rey 1997: 192) Nicht zuletzt
waren es die am stärksten von Zuwanderung betroffenen Staaten – Frankreich,
Belgien, Deutschland, Luxemburg und die Niederlande – die sich gemeinsam auf
das SDÜ einigten (bpb 2007: o.S.).
Zudem wurden mit dem SDÜ Bestimmungen über das Schengener
Informationssystem (SIS) festgelegt, womit die Entwicklung eines europäischen
Registrationssystems von AusländerInnen begann. Darauf folgte später die
Planung des SIS II, welches das SIS ablösen soll, sowie auch das Eurodac-
System. Daher ist es wichtig, die Entstehung entsprechender französischer
Registrationssysteme, wie Éloi (Étrangers en situation irrégulière)48, im Kontext
einer Europäisierung von Registrierungen im Migrations- bzw. Asylbereich zu
betrachten. (Barthélémy et al. 2009: 120)
Beobachtet man französische asylpolitische Maßnahmen zur Zeit des Schengen-
und Dublinabkommens, so kann festgestellt werden, dass die europäische Ebene
des Asylrechts mehrmals als Argumentation für nationale restriktive Maßnahmen
herangezogen wurde. Somit ist annehmbar, dass die französische Gesetzgebung
der Europäischen teils vorgriff bzw. europäische Regelungen in Frankreich
unterschiedlich stark ausgeprägt Anwendung fanden, oder unterschiedlich schnell
umgesetzt wurden. Dies betrifft beispielsweise die Einrichtung der internationalen
Wartezonen und der Kontrollen der Transportunternehmen im Jahr 1992, welche –
wie in Kapitel 3.2.4 erwähnt – bereits vor Anwendung der europarechtlichen
Grundlage (ab 1996) in Frankreich eingesetzt wurden. (vgl. Rey 1997: 147)
Die in Kapitel 3.2.5 besprochene Überprüfung der Verfassungskonformität des
SDÜ, das Loi Pasqua und die Verfassungsänderung 1993 die
Prüfungszuständigkeit von Asylanträgen und die Einreise von AusländerInnen
48
Bereits im August 2006 wollte der französische Innenminister ein Dekret zur Erstellung eines
solchen Registrationssystems erlassen. Da dieses jedoch sehr repressiv geprägt war, wurde es
nach einer Klage von NGOs beim Conseil d’État annulliert. Später von Nicolas Sarkozy und dann
von Brice Hortefeux wieder aufgegriffen, wurde das System im Jahr 2007 – unter Wegfall
umstrittener Bestimmungen – durchgesetzt. (Zappi 2007: o.S.) Die Computerkartei Éloi wurde
schließlich im Dezember 2007 per Dekret von der UMP-Regierung kreiert und folgt dem Ziel der
Verwaltung von Rückführungen von Personen, deren Aufenthalt auf nationalem Boden
ordnungswidrig ist, sowie der Speicherung ihrer Daten. (Décret n° 2007-1890 2010: Art. 1)
Seite 78
betreffend, waren hingegen vielmehr eine Reaktion auf das SDÜ und dessen
Bestimmungen zur Asylprüfung (vgl. Dickel 2002: 198-203). Dass die europäische
Ebene als Rechtfertigung der restriktiven Maßnahmen in Frankreich diente, zeigt
insbesondere das Loi Pasqua von 1993. Durch dieses wurden Kontrollbefugnisse
nicht nur – wie durch das Schengener Abkommen vorgesehen – geographisch
erweiterte, sondern ebenso quantitativ und qualitativ. Das primäre Argument für
die Ausdehnung der Kontrollbefugnisse war der Schutz der nationalen Sicherheit.
(Rey 1997: 208)
Im Kontext des Wegfalls der Binnengrenzen und der Entstehung des
gemeinsamen Binnenmarktes im Jahr 1993 entstanden neue Herausforderungen
und Probleme für die französische Einwanderungs- und Asylpolitik. Obwohl
Frankreich generell die Entwicklung des Binnenmarktes als ein bedeutendes Ziel
betrachtete – und erheblich an dessen Entstehung selbst mitgearbeitet hat – blieb
man im Bereich des Asylrechts eher skeptisch. (Oellers-Frahm 1992: 36) Während
sich für die Unterzeichnung des SDÜ noch eine relativ große parlamentarische
Mehrheit finden ließ, verlief die Ratifizierung des Unionsvertrags eher schwierig.
Grundsätzlich ist dies aus dem Willen der Wahrung der staatlichen Souveränität,
gekoppelt mit der Argumentation der Gefährdung der identité nationale durch die
befürchtete vereinfachte Einwanderung, ableitbar. Mit der Diskussion um die
Ratifizierung des Vertrags von Maastricht erreichte die Debatte um
Souveränitätswahrung und nationale Identität in Frankreich vorerst, im ersten
Halbjahr 1992, ihren Höhepunkt49. (Rey 1997: 222f)
Daher ist anzunehmen, dass sich die einsetzenden Diskussionen rund um den
Unionsvertrag ebenfalls auf das sicherheits- und kontrollorientierte Loi Pasqua und
die Verfassungsänderung von 1993 auswirkten. In diesem Sinne veranlassten
Maßnahmen auf EU-Ebene Frankreich zur Anpassung seiner asylrechtlichen
Bestimmungen, auch wenn diese seitens des Staates teils restriktiver gefasst
wurden und der Absicherung der nationalen Souveränität dienten.
49 Schließlich wurde durch Präsident Mitterrand auch ein Referendum über die Unterzeichnung des
Unionsvertrags durchgeführt. (Rey 1997: 224)
Seite 79
3.3.2 Erste Phase gemeinsamer europäischer Asylpolitik 1999-2006:
Frankreich auf der Überholspur
Durch den Vertrag von Amsterdam wurden die Bereiche Asyl und Einwanderung
von der dritten in die erste Säule übergeführt, wodurch sie in das Gebiet
gemeinschaftlicher Kompetenzen eintraten. Trotzdem entschied der Europäische
Rat während der Übergangsphase bis 2004 noch mit Einstimmigkeitsprinzip. Ab
2004 gilt die Vergemeinschaftlichung des Asylrechts als abgeschlossen – kein
Staat kann im Alleingang eine gemeinschaftliche Entscheidung blockieren. (Le
Pors 2010: 109ff) Um die in Amsterdam angestrebten Ziele im Asylbereich zu
erreichen50, wurde das Tampere-Programm51 erarbeitet, wodurch die erste Phase
der Harmonisierung der Asylpolitik auf EU-Ebene eingeleitet wurde. Grundsätzlich
besteht das Harmonisierungsprogramm aus drei Achsen: der Integration von
regulären MigrantInnen, der Schutz von AsylwerberInnen und Flüchtlingen, sowie
dem Kampf gegen irreguläre Einwanderung und der Kontrolle der Außengrenzen.
Seit Tampere lässt sich indes ein Rückgang im Engagement – betrachtet man die
erarbeiteten Richtlinien – in den ersten beiden Bereichen verzeichnen. Die
Vorrangigkeit des dritten, auf sicherheits- und kontrollpolitische Maßnahmen
ausgerichteten Bereichs lässt sich also nicht nur in Frankreich, sondern generell
auf europäischer Ebene, feststellen. (vgl. Barthélémy et al. 2009: 118)
Les chefs d’État et de gouvernement des États membres semblent avoir oublié
leur engagement, pris lors du Conseil de Tampere en octobre 1999, sur le «
respect absolu du droit de demander l’asile » et la mise en place d’un régime
européen d’asile « fondé sur l’application intégrale et globale de la Convention
de Genève ».52 (Delouvin 2004: 21)
Restriktive Tendenzen im Bereich der Asylpolitik verstärkten sich im Verlauf der
1990er Jahre in den EU-Mitgliedstaaten deutlich, was einerseits auf die
Einführung der Drittstaatregelung zurückzuführen ist und sich andererseits an der
Einführung
beschleunigter
Verfahren
und
eingeschränkter
50 Hierzu mehr in Kapitel 2.2.4 Vertrag von Amsterdam (1997)
51 Hierzu mehr in Kapitel 2.2.5 Das Tampere-Programm (1999)
52
Zu Deutsch: Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten scheinen ihr Engagement,
dass sie anlässlich des Rats von Tampere im Oktober 1999 gezeigt haben, bezüglich des
„absoluten Respekts auf das Recht Asyl anzusuchen“ und bezüglich der Einrichtung eines
europäischen Asylregimes „basierend auf der integralen und globalen Anwendung der Genfer
Flüchtlingskonvention“ vergessen zu haben.
Seite 80
Rechtsschutzmöglichkeiten für offensichtlich unbegründete Asylanträge auf
nationaler Ebene zeigt. (Weinzierl 2005: 145f) Trotz dieser Praxis in zahlreichen
Mitgliedstaaten und der endgültig einsetzenden Harmonisierung des europäischen
Asylrechts mit dem Vertrag von Amsterdam, sowie dem Beschluss der RL
Vorübergehender Schutz (2001) sind in Frankreich zu jener Zeit, bis zu den Lois
Sarkozy und Villepin von 2003, keine entscheidenden asylrechtlichen Änderungen
in Verbindung mit der europäischen Asylpolitik durchgesetzt worden53. Dies
scheint darauf hinzuweisen, dass die auf EU-Ebene getroffenen Maßnahmen die
Linksregierung unter Jospin nicht dahingehend beeinflusste, erweiternde
asylpolitische Maßnahmen auf nationaler Ebene zu setzen. Mit dem
Regierungswechsel zur UMP im Jahr 2002 und der damit verbundenen
Verschärfung der Asylpolitik änderte sich dies jedoch. (siehe Kapitel 3.2,
insbesondere 3.2.7)
Die Asylpolitik der EU hatte demgemäß besonders seit dem Regierungswechsel
2002 vermehrt zu Änderungen in der französischen Gesetzgebung geführt. Mit
dem Loi Sarkozy von 2003 wurden folglich die RL zum vorübergehenden Schutz
von 2001, sowie die Aufnahme-RL von 2003 in den französischen Rechtsrahmen
übergeführt. Weitere auf nationaler Ebene beschlossene Bestimmungen, vor allem
jene durch das Loi Villepin 2003, lehnten sich bereits an EU-Richtlinien an, die zu
jener Zeit erst in Diskussion standen: die Richtlinien zum Asylverfahren, Kriterien
zur Vergabe des Flüchtlingsstatus und auch zum subsidiären Schutz. (Delouvin
2004: 22)
So antizipierte Frankreich bereits durch das Loi Villepin von 2003 mit der
Einführung der Konzepte des internen Schutzes und sicherer Herkunftsstaaten ins
französische Asylrecht der diesbezüglich geplanten EU-weiten Harmonisierung
(Sohler 2009: 28; Le Pors 2010: 118). Auf EU-Ebene wurden erst im Jahr 2004
durch die Qualifikations-RL Bestimmungen über den internen Schutz von
AsylwerberInnen eingeführt, welche dazu führen können, dass dem/der
53 Die Asylpolitik unter der Regierung Jospin verlief generell ohne große Reformen bzw. Umbrüche;
zur diesbezüglichen Kritik durch die Folgeregierung siehe Kapitel 3.2.7 Loi Sarkozy (2003) und
3.2.8 Loi Villepin (2003).
Seite 81
Asylsuchenden der Anspruch auf internationalen oder subsidiären Schutz im
Anfrageland verweigert wird (RL 2004/83/EG: Art. 8).
Das Konzept sicherer Herkunftsstaaten wurde erst mit der Asylverfahrens-RL von
2005 auf europäischer Ebene beschlossen, aber nach einer Klage des
Europäischen Parlaments beim EuGH von diesem annulliert (bpb 2007: o.S.).
Allerdings fertigte Frankreich schon anlässlich des Ministerrats am 05. Juni 2003
mit Großbritannien, Deutschland, Spanien und Italien eine gemeinsame Erklärung
zum Begriff sicherer Herkunftsstaaten an, um sobald als möglich einen ersten
Vorschlag über eine entsprechende Liste erhalten zu können. Das Loi Villepin vom
Dezember 2003 beinhaltet bereits diesen Begriff. (Delouvin 2004: 23) Jedoch
reichte das Europäische Parlament beim EuGH eine Klage ein und so wurde das
Vorhaben der Liste sicherer Herkunftsländer schließlich in einer Pressemitteilung
des EuGH vom 6. Mai 2008 annulliert.54 (bpb 2007: o.S.)
Ferner wurde durch das Loi Villepin 2003 in offensichtlich unbegründeten
Asylantragsfällen eine Ausnahme der Ladung vor die OFPRA festgelegt. Parallel
dazu, bemühte sich die französische Delegation auf europäischer Ebene eine
solche zusätzliche Ausnahme zur Gesprächsladung in der Asylverfahrens-RL
durchzusetzen. Frankreich bestrebte also wiederum in Hinblick auf die
Asylverfahrensrichtlinie, eigene Konzepte zu erhalten und im gemeinschaftlichen
Text einzubringen. (Delouvin 2004: 22)
Ebenso verhält es sich mit den im Loi Villepin eingeführten neuen Definitionen
bezüglich der Anerkennungs- und Schutzbestimmungen. Erstmals erfolgte damit
die Anerkennung von Verfolgungshandlungen durch nicht-staatlicher AkteurInnen,
sowie Schutzmöglichkeiten durch nicht-staatliche AkteurInnen. Zudem wurde das
Konzept des subsidiären Schutzes eingeführt, welches das bisher gültige asile
territorial ersetzte. (Sohler 2009: 28) Die vom Rat beschlossene Qualifikations-RL
harmonisiert schließlich 2004 diese in Frankreich bereits 2003 angenommenen
Bestimmungen des Asylrechts (vgl. RL 2004/83/EG).
54 Hierzu mehr in Kapitel 2.2.10 Asylverfahrensrichtlinie (2005)
Seite 82
Die Tatsache, dass durch das Loi Villepin vom Dezember 2003 bereits
asylrechtliche Bestimmungen durchgesetzt wurden, die auf europäischer Ebene
vorerst nur diskutiert und erst in den Folgejahren harmonisiert wurden, lässt sich
durch das Bestreben der Mitgliedstaaten, nicht allzu viel an ihrer eigenen
Gesetzgebung ändern zu müssen, begründen. Dementsprechend beinhalten die
auf EU-Ebene ausgearbeiteten Texte zumeist nur in den Mitgliedstaaten bereits
bestehende Bestimmungen: En France, le Sénat a parlé d’harmonisation « en
trompe l’oeil »“55
(Delouvin 2004: 22). Kritiker beklagen daher, dass das
Engagement, ein adäquates europäisches Asylrecht auszuarbeiten, oft durch eine
Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner scheitere (Barthélémy et al.
2009: 118).
Ferner legte die französische Delegation dem Europäischen Rat am 29. Juli 2002
einen Vorschlag zur Rationalisierung von Rückführungsmaßnahmen, genauer
gesagt, gemeinsame Gruppenrückführungsmaßanahmen, vor. Frankreich erklärt
sich darin weiter der Meinung, solche Gruppenrückführungen wären geeignet als
starkes Signal an Herkunftsländer irregulärer Immigration und an Kandidaten der
im Untergrund organisierten Immigration. Dementsprechend forderte die
französische Delegation eine Formalisierung/Systematisierung von speziellen
europäischen Charterrückführungen und schlug vor, dabei die Anführerrolle zu
übernehmen und eine Pilotengruppe unter der Führung des französischen
Innenministeriums einzusetzen. (Anafé 2003: o.S.; Delouvin 2004: 23) Schließlich
nahmen die Mitgliedstaaten im November 2002 ein Aktionsprogramm bezüglich
der Rückführungsmaßnahmen auf und das von Frankreich vorgeschlagene
Projekt wurde angenommen. Der Rat befürwortete die gemeinsamen
Rückführungsmaßnahmen, da gemeinsame Charterflüge nicht nur finanzielle
Vorteile brächten, sondern da diese auch ein deutliches Signal (an illegale
Einwanderer und deren Ursprungsländer) darstellen würden. (Delouvin 2004: 23)
Um schneller und effektiver arbeiten zu können, verbündete sich Frankreich mit
Großbritannien, Italien, Spanien und Deutschland zu den sogenannten G5, um
den langsamen Arbeitsprozessen mit den damals 15 Mitgliedstaaten zu entgehen.
55 Zu Deutsch: In Frankreich sprach der Senat von einer Harmonisierung „des Augenauswischens“.
Seite 83
Die G5 sehen es als ihr Ziel, Initiativen im Einwanderungs- und Asylrecht auf EU-
Ebene vorzubereiten. Ein Beispiel hierfür ist die oben erwähnte gemeinsame
Erklärung der G5 über den Begriff sicherer Herkunftsstaaten. (ebd.: 24)
Demgemäß erklärte Innenminister Sarkozy in seinem Bilan des actions de
coopération internationale (Bilanz der Aktionen internationaler Kooperation) vor
dem Assemblé National am 11. Februar 2004:
En ce qui concerne la construction communautaire, et eu égard aux
dysfonctionnement [sic] de l'Europe à 15 et bientôt à 25, j'ai estimé
indispensable la constitution d'un "groupe des cinq", fondé sur des relations
personnelles et réunissant régulièrement les ministres de l'Intérieur français,
allemand, britannique, espagnol et italien. Il ne s'agit pas de négliger les Etats
moins importants, mais de tenir compte d'une réalité : ces cinq pays
représentent 80 % de la population communautaire et sont les principaux pays
exposés aux enjeux de l'immigration. Ensemble, nous préparons des
initiatives afin qu'elles soient avalisées par le Conseil JAI […]56 (Sarkozy 2004:
o.S.)
Bereits in der Zeit vor dem Beschluss des Loi Sarkozy II vom 24. Juli 2006 wurden
Frankreichs Aufnahme- und Unterbringungssystem erneuert. Unter anderem ist
dies durch die Angleichung an die Aufnahme-RL und den darin festgesetzten
Mindeststandards zu begründen. Argumentiert wurden jene nationalen Reformen
mit der Notwendigkeit einer Modernisierung der Funktionsweisen, gleichzeitig
waren sie aber mit der Verstärkung von Kontrollen seitens des französischen
Staates verbunden. Gleiches gilt für das Loi Sarkozy II selbst. (vgl. Sohler 2009:
29f) Zudem traf man durch diese Reform des französischen Asyl- und
Einwanderungsrechts nicht tatsächlich die in der Aufnahme-RL geforderten
Mindeststandards. Die Zulassung zu den Asylheimen in Frankreich wird nur mit
vorläufigem Aufenthaltsrecht genehmigt, wodurch AsylwerberInnen in verkürzten
und Dublin II-Verfahren keinen Zugang haben. Dieser Ausschluss von der
Aufnahme widerläuft Art. 13 der europäischen Aufnahme-RL. (Cfda 2007: 13)
56
Zu Deutsch: Bezüglich des gemeinsamen Aufbaus und unter Berücksichtigung der
Funktionsstörungen der EU-15 und bald 25, befinde ich es als unerlässlich eine „Gruppe von fünf“
zu gründen, die auf persönlichen Beziehungen basiert und bei der sich regelmäßig die
französischen, deutschen, britischen, spanischen und italienischen InnenministerInnen
versammeln. Es handelt sich nicht darum, die weniger wichtigen Staaten zu vernachlässigen,
sondern sich einer Realität bewusst zu sein: diese fünf Länder repräsentieren 80% der
Bevölkerung der Gemeinschaft und sind die Länder, die am meisten den Herausforderungen der
Immigration ausgesetzt sind. Zusammen bereiten wir Initiativen vor, um sie anschließend durch
den Rat der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen unterstützen zu lassen.
Seite 84
3.3.3 Zweite Phase gemeinsamer europäischer Asylpolitik 2007-2010:
Gemeinschaftlicher Kampf gegen irreguläre Einwanderung und
Einfluss der französischen EU-Präsidentschaft auf die europäische
Asylpolitik
Im Juni 2007 leitete die Europäische Kommission, mit der Vorlage eines
Grünbuchs, die zweite Phase zum Auf- bzw. Ausbau des europäischen
Asylsystems ein (bpb 2007: o.S.). Doch trotz der Bemühungen der Mitgliedstaaten
ihre internen gesetzlichen Bestimmungen im Asylbereich übereinzustimmen, spielt
das Souveränitätsprinzip der einzelnen Staaten immer noch eine wichtige Rolle in
der Erstellung von Konzepten und Kriterien. So bestehen weiterhin signifikante
asylrechtliche Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten. (Le Pors 2010: 117)
2007 war zudem das Jahr der Wahl Sarkozys zum französischen Präsidenten. Die
migrationspolitische Agenda seiner Wahlkampfstrategie blieb auch nach der Wahl
eine bedeutende Thematik der neuen UMP-Regierung. Die Thematik Asyl und
Einwanderung wurde demnach nicht zuletzt auch aufgrund des bevorstehenden
EU-Vorsitzes Frankreichs, Juli bis Dezember 2008, von der französischen
Regierung bekräftigt. Das am 23. Oktober 2007 beschlossene Loi Hortefeux
entspricht jenen migrationspolitischen Agenden, welche primär auf sicherheits-
und migrationskontrollorientierten Pfeilern beruhen. (vgl. Sohler 2009: 32f) Direkte
Einflüsse europäischer Asylpolitik auf die französische Asyl- und
Einwanderungsrechtsreform durch Hortefeux, oder vice versa, können nicht
unmittelbar erkannt werden. Indes stehen ebenso auf EU-Ebene
sicherheitspolitische Agenden, sowie der Kampf gegen irreguläre Migration, seit
einigen Jahren im Vordergrund und laufen somit mit der französischen Asylpolitik
der letzten Jahre konform. Auch die Beschränkung der Familienzusammenführung
durch das Loi Hortefeux, die in Frankreich zuvor noch relativ offen gehandhabt
wurde, wurde mit der entsprechenden EU-Richtlinie von 2003 legitimiert. (vgl.
Cimade 2009: 140; Barthélémy et al. 2009: 118f) Demgegenüber ist die Reform
der Asylverfahren an der Grenze durch das Loi Hortefeux – mit der Einführung der
Seite 85
aufschiebenden Wirkung auch in Berufungsverfahren – auf Druck des EuGH
passiert57 (Aubin 2009: 187).
Während der EU-Präsidentschaft Frankreichs von Juli bis Dezember 2008, war
Einwanderungs- und Asylpolitik ein Schwerpunkt in der Agenda. Dabei wurde von
der französischen Präsidentschaft der im Oktober vom Europäischen Rat
angenommene Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl58 entworfen, welcher
ab sofort eine grundlegende Leitlinie für die europäische Einwanderungs- und
Asylpolitik darstellte. (Sohler 2009: 32) In Frankreich wurde die Annahme des
Paktes, der gewissermaßen den Konsens der Mitgliedstaaten über den Kampf
gegen illegale Einwanderung zeigt, als „victoire des idées françaises“59 [sic], so
Minister Hortefeux, gefeiert (Aubin 2009: 90):
Et alors que le ministre s'est une nouvelle fois félicité d'avoir fait adopter à
l'unanimité des Vingt-Sept le Pacte européen sur l'immigration, Amnesty
International France, s'inquiétant de la "pression accrue sur les étrangers",
déplore que ce Pacte "vise surtout à entraver l'accès au territoire" aux
demandeurs d'asile.60 (Van Eeckhout 2009: o.S.)
Des Weiteren übte Frankreich mit der Durchführung mehrerer Ministertreffen zum
europäischen Asylsystem, sowie zur Integrationspolitik und einer zweiten Euro-
Afrikanische Konferenz zu Migration und Entwicklung während seiner EU-
Präsidentschaft Einfluss auf die EU-Einwanderungs- und Asylpolitik aus (vgl.
Sohler 2009: 32).
Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl beinhaltet jedoch – neben
französischen Initiativen – auch einen Bereich, der allgemein Absichten der
Kommission wiederaufnimmt. Dazu zählen die Einrichtung einer gemeinsamen
Agentur zur Förderung der Zusammenarbeit und zur Vereinheitlichung von
Asylverfahren, sowie die Einrichtung gemeinschaftlicher Prüfungsgruppen von
57
Siehe hierzu auch Kapitel 3.2.11 Loi Hortefeux (2007)
58 Siehe hierzu auch Kapitel 2.2.11 Europäischer Pakt zu Einwanderung und Asyl (2008)
59 Zu Deutsch: Sieg der französischen Ideen.
60 Zu Deutsch: Und während sich der Minister erneut dazu beglückwünschte, dass er es geschafft
hat, dass unter Einstimmigkeit der 27 der Europäischen Pakt zur Immigration angenommen wurde,
betrauert Amnesty International France, beunruhigt über den „gesteigerten Druck auf Fremde“,
dass der Pakt „vor allem darauf abzielt, den Zugang zum Territorium“ für AsylwerberInnen „zu
erschweren“.
Seite 86
Asylanträgen, um jenen Mitgliedstaaten, die von enormen Zuwanderungsströmen
betroffen sind, auszuhelfen. (vgl. immigration.gouv.fr 2008 a: 8; Cimade 2009:
141) Die von der französischen EU-Präsidentschaft für 2009 forcierte Einrichtung
einer gemeinschaftlichen europäischen Asylbehörde zur Prüfung von
Asylanträgen scheiterte allerdings aufgrund der Ablehnung durch die meisten
Mitgliedstaaten, da diese die Souveränität über die Asylanerkennung nicht auf
gemeinschaftliche Ebene übertragen wollen (Lavenex 2009: 8).
Die im Pakt angestrebte Bekämpfung illegaler Migration und sowie die
Rückführung in Dritt- und Transitländer wird mittlerweile grundsätzlich durch die
Rückführungsrichtlinie abgedeckt (Euractiv 2008: o.S.). Zudem wurde bereits
2001, auf Initiative Frankreichs, eine Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung
von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen
durchgesetzt, durch welche Rückführungsentscheidungen gegenüber
Drittstaatsangehörigen anerkannt werden, wenn sich diese im Hoheitsgebiet eines
anderen Mitgliedstaates befinden (RL 2001/40/EG).
Der von der französischen EU-Präsidentschaft erstellte Europäische Pakt zu
Einwanderung und Asyl setzt also einen starken Akzent auf die Entwicklung von
Instrumenten zum effektiven Kampf gegen irreguläre Einwanderung. Dies stellt
allerdings in Hinblick auf die Europäische Asylpolitik und deren oft
sicherheitsorientierten Richtlinien kein Novum dar. Auch die Durchsetzung der
Rückführungsrichtlinie, angenommen durch das Europäische Parlament im Juni
und später durch den Rat im Dezember 2008 (Cimade 2009: 16), steht dabei unter
derselben Zielsetzung. (Aubin 2009: 91) Die mit der Rückführungsrichtlinie
festgelegte Schubhaft von 6 bis zu 18 Monaten ist auf die Durchsetzung des
deutschen Modells zurückzuführen. Zuvor waren hierfür maximal sechs Monate
vorgesehen, was jedoch einigen Mitgliedstaaten, in denen die Schubhaft
unbegrenzt ist – so etwa in Dänemark, Finnland, Estland, Litauen, Niederlande,
Großbritannien und Schweden – zu freizügig war. In Frankreich wurde die
Schubhaft zuletzt durch das Loi Sarkozy vom 26. November 2003 von 12 auf 32
Tage verlängert (Cimade 2009: 111). Mit der Annahme der Rückführungsrichtlinie
ist es nun jedoch wahrscheinlich, dass einige Staaten mit einer kürzeren
maximalen Dauer der Schubhaft, diese verlängern werden. (Knapp 2009: 10)
Seite 87
3.3.4 Resümee
Im Großen und Ganzen zeigt sich, dass der restriktive Trend der französischen
Asylpolitik in Europa nicht einzigartig ist – es handelt sich vielmehr um eine
gesamteuropäische Tendenz zu einer vornehmlich an Sicherheit und Kontrolle
orientierten Vorgehensweise im Bereich Asyl und Einwanderung61. Ebenso stellt
die Nicht-Differenzierung der Politikbereiche Immigration und Asyl keinen
französischen Spezialfall dar:
As European States like France have closed their borders to labour migration
and have at the same time reduced or stopped completely resettlement
programs for political refugees, asylum seeking has become one of the major
routes of legal migration into Europe, and consequently politicians have begun
to treat immigration and asylum as one single issue. (Freedman 2004: 56)
Dabei haben Regelungen auf EU-Ebene die französische Asylgesetzgebung, wie
auch jene anderer Mitgliedstaaten, beeinflusst. Nationale Rechtslagen müssen
sich an die in den Richtlinien geforderten Mindestnormen anpassen. Indes wurde
in Frankreich jene Anpassung an europäische Normen mehrmals zur
Rechtfertigung strengerer Bestimmungen und erweiterter Kontrollen
herangezogen, insbesondere seit Beginn der UMP-Regierung 200262.
Auffällig waren vor allem Maßnahmen die mit dem Loi Villepin von 2003 auf
nationaler Ebene zu einer Zeit durchgesetzt wurden, da dieselben Maßnahmen
durch EU-Richtlinien erst in Diskussion standen. Erklärbar ist dies mit dem Willen
des Staates, eigene nationale Vorhaben und Bestimmungen – zumeist restriktiver
Natur – auf gemeinschaftlicher Ebene durchzusetzen.
61
Neben Frankreich findet insbesondere auch in Großbritannien ein Drängen hin zu restriktiveren
Einwanderungsregimen statt, welche durch die Harmonisierung auf EU-Ebene zumeist gefördert
werden (Hanisch 2003: 35).
62 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich grundsätzlich in Europa, mit dem Erstarken
rechtspopulistischer Parteien in mehreren Mitgliedstaaten und deren zumeist ausländerfeindlichen
Rhetorik, eine Verhärtung der Einwanderungs- und Asylpolitik in der EU erkennen (Nuscheler
2004: 177).
Seite 88
Ebenso stellen die französische EU-Präsidentschaft und deren Erstellung des
Europäischen Paktes zu Einwanderung und Asyl eine enorme Einflussnahme auf
die Gestaltung des gemeinsamen europäischen Asylsystems dar. Der als
französischer Siegeszug gefeierte Pakt stellt den Kampf gegen irreguläre
Einwanderung in den Vordergrund und spiegelt somit die französische Zielsetzung
der immigration choisie – und den dadurch erschwerten Zugang für
AsylwerberInnen zum Asylsystem – wider.
Obwohl Frankreich mehrmals der EU-Asylpolitik antizipierte, sowie asylpolitische
Initiativen auf gemeinschaftlicher Ebene forcierte und auch umsetzte
(beispielsweise das Konzept sicherer Herkunftsstaaten und des internen
Schutzes, die Einführung gemeinsamer Charterrückführungen, die Erstellung des
Paktes zu Einwanderung und Asyl), kann die Einflussnahme der französischen auf
die europäische Asylpolitik nicht als außergewöhnlich angesehen werden.
Frankreich erscheint in diesem Hinblick somit viel eher als ein Bestandteil einer
europaweit erkennbaren Entwicklung der Asylpolitik, welche hauptsächlich durch
Krisen und fragmentarische Politikkonzepte geprägt ist. (vgl. Manfrass 2001: o.S.)
Auch im Kontext der mehrfach getätigten Reformen seit Beginn des 21.
Jahrhunderts, zeichnet sich die französische Asylpolitik nicht durch eine
Konkurrenzhaltung, aber eher durch Komplementarität zur europäischen
Asylpolitik aus (Barthélémy et al. 2009: 121). So meint auch Frau Simone Fluhr:
[…] je pense que c’est l’ensemble des État qui sont dans le même état
d’esprit. Qu’on disait, tout au début, qui est, que la, que cette question des
réfugiés est prise dans la question de l’immigration clandestine en général, et
que toutes les législations qui du coup touchent après les demandeurs d’asile,
sont pris dans cette logique de contrôle et de police, plutôt que de protection.
Je pense que c’est vraiment tous les États qui s’entendent bien là-dessus.63
(ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 379-384)
63
Zu Deutsch: […] ich denke, dass es die Gesamtheit der Staaten ist, die dieselbe Orientierung
haben. So, dass man sagt, ganz zu Beginn, dass es, dass die, dass diese Frage der Flüchtlinge
unter der Frage nach der irregulären Immigration generell angegangen wird und dass all die
Gesetze die plötzlich dann die AsylwerberInnen treffen, in dieser Logik polizeilicher Kontrollen
angegangen wird, vielmehr als in der Logik des Schutzes. Ich glaube es sind wirklich alle Staaten,
die sich diesbezüglich sehr gut verstehen.
Seite 89
3.4 Die Rolle nicht-staatlicher AkteurInnen
In Frankreich haben nicht-staatliche AkteurInnen, das bedeutet die
Zivilbevölkerung und NGOs, sowie deren Mobilisierungsmaßnahmen eine lange
Tradition. Auch im Bereich Migration und Asyl spielte und spielt das Engagement
von nicht-staatlichen AkteurInnen, aber auch die Selbstorganisation von
AsylwerberInnen und MigrantInnen eine signifikante Rolle in Anbetracht der
Beeinflussung der französischen Asylpolitik, sowie der Sichtbarmachung der
Probleme von AsylwerberInnen und der Thematik der Irregularität in der
Öffentlichkeit. In diesem Kapitel soll folglich auf die Entwicklung von NGOs in
diesem Bereich und die Selbstorganisation der AsylwerberInnen und MigrantInnen
eingegangen werden. Anschließend erfolgt eine nähere Betrachtung der sans-
papiers (zu denen unter anderem auch ehemalige AsylwerberInnen zählen), ihrer
Mobilisierungskraft und den Regularisierungsmaßnahmen durch die französische
Asylpolitik, welche meist zumindest teilweise eine Reaktion auf sozialen Protest
waren. Abschließend wird der délit de solidarité (der sogenannte
Solidaritätsdelikt), welcher in den letzten Jahren öffentlich stark thematisiert und
umstritten wurde, diskutiert.
3.4.1 NGOs und Selbstorganisation von AsylwerberInnen und
MigrantInnen
Die Entstehung von NGOs im Asyl- und Migrationsbereich in Europa ist im Kontext
weltpolitischer, -wirtschaftlicher und sozialer Phänomene zu sehen. Während die
Organisation und Steuerung von Flucht und Migration bis Mitte der 1980er Jahre
noch eindeutig in das Aufgabengebiet des Nationalstaates fiel, kam von nun an
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Zwischenregierungsorganisationen
(IGOs) immer mehr Bedeutung in diesem Politikfeld zu. Dies steht in
Zusammenhang mit der Weltwirtschaftskrise in den 1970ern, dem Anwerbestopp
von ArbeitsmigrantInnen und der gleichzeitig zunehmenden (ökonomischen)
Globalisierung und Wirtschaftsmigration. Parallel dazu lösten soziale Krisen, wie
Schuldenkrisen, in „Dritte-Welt“-Ländern und Bürgerkriege wie in Afghanistan, im
Libanon und anderen (vor allem) afrikanischen Ländern komplexe
Seite 90
Flüchtlingsströme aus. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sahen
sich westliche Länder schließlich vor enormen Problemen bezüglich der
Bewältigung der Migrations- und Fluchtbewegungen. Diese Überforderung der
staatlichen Institutionen im Management der Migration führte schließlich zur
Gründung von zwischenstaatlichen Organisationen, sowie zu einer erhöhten
Finanzierung von NGOs ab Anfang der 1990er Jahre. (vgl. Georgi 2009: 76f.)
Des Weiteren kann die relativ starke Vernetzung und das Engagement nicht-
staatlicher Akteure in Frankreich ebenso auf die lange Tradition von
Menschenrechts-, Antirassismus-, Asylrechts-, sowie allgemein humanitärer und
kirchlicher Vereine und Organisationen zurückgeführt werden. Teils entsprangen
diese aus Menschenrechts- und Antirassismusorganisationen die bereits im
Rahmen der Widerstandsorganisationen der Vichy-Zeit entstanden und sich
später zu traditionsreichen Asyl-NGOs entwickelten. In Hinblick auf die
Verteidigung von ImmigrantInnenrechten dehnte sich der Bestand solcher
Organisationen während der 1970er Jahre weiter aus, wobei einige – ihnen voran
France terre d’asile, das Aufnahmesystem von AsylwerberInnen betreffend –
relativ stark im politischen System mit eingebunden waren. (vgl. Langthaler et. al
2009: 23) Die bis heute bestehende Organisation France terre d’asile, stellt somit
ein klassisches Beispiel dieser traditionsreichen Asyl-Organisationen dar: aus der
Widerstandsbewegung entsprungen, wurde diese im Jahr 1971 zur Verteidigung
des Rechts auf Asyl gegründet. Die Mediation mit staatlichen Instanzen war und
bleibt eine der primären Aufgaben des Vereins. (France terre d’asile 2007: o.S.)
Während der 1990er begann eine immer intensivere Kooperation zwischen den
einzelnen MigrantInnen- und Asylrechtsorganisationen. Dementsprechend ist
diese Periode durch eine NGO-isierung und Professionalisierung des Bereichs
charakterisiert64. Ferner entstanden Vereine, welche sich vor allem gegen den
„Verfall“ des französischen Asylsystems richten sollten. Es handelt sich dabei also
um die Gründung von Vereinen, die hauptsächlich auf asylpolitische
Interessensvertretung ausgerichtet sind. Daneben zeigt sich in den letzten Jahren
64
Dies resultierte insbesondere aus einer stark erweiterten institutionelle Einbindung der
Organisationen und Vereine in das Betreuungssystem für AsylwerberInnen (Langthaler et al. 2009:
25).
Seite 91
im NGO-Bereich ein Trend hin zur Internationalisierung der Aktivitäten der
Organisationen, d.h. die Ausdehnung deren Handlungsfeldes auf Transitländer
von Flüchtlingen65. (Langthaler et al. 2009: 23)
Grundlegend für die Entwicklung und Form von sozialen Bewegungen in
Frankreich ist die immer noch stark ausgeprägte Zentralisierung des Staates, trotz
der teilweisen Dezentralisierungsreformen unter Präsident Mitterrand. Die
weitgehend geschlossene institutionelle Struktur des politischen Systems, sowie
starke staatliche Implementationsfähigkeiten wirken sich doppelt auf soziale
Bewegungen aus. Einerseits sehen sich soziale Bewegungen einem klaren
„Gegner“ gegenüber. Andererseits ermöglicht es dies der Regierung, auch unter
Druck von sozialen Bewegungen, policy-Ziele weitgehend durchzusetzen, da die
„Gegner“ relativ einfach ignoriert werden können. (Laubenthal 2006: 51ff.) Soziale
Bewegungen im Asyl- und Flüchtlingsbereich sind in Frankreich bereits seit den
1960er Jahren von großer Bedeutung und auch die Protestmobilisierung stellt eine
grundlegende Art politischer Auseinandersetzung dar. (Langthaler et al. 2009: 23)
Derartige Mobilisierungsmaßnahmen haben dementsprechend lange Tradition:
„Disruptiver sozialer Protest ist ein grundsätzliches Merkmal des französischen
Systems, das eher auf das Funktionieren des Systems als auf eine Anomalie
hinweist.“ (Laubenthal 2006: 53f.).
Asyl-NGOs spielen diesbezüglich zumeist die Rolle des Vermittlers zwischen
betroffenen Personen(gruppen) und den staatlichen Institutionen. Zudem dienen
BürgerInnen- und Prominentenkomitees der kollektiven Interessensvertretung
zusammen mit den MigrantInnen, AsylwerberInnen und Flüchtlingen und stellen
eine in Frankreich weit verbreitete solidarische Praxis dar66. (Langthaler et al.
2009: 25) Simone Fluhr beschreibt diese Vermittler-Rolle der Asylrechts-NGOs als
oftmals essentiell, um Rechte der AsylwerberInnen geltend zu machen:
Alors, moi, je pense qu’il est très important, et d’autant plus essentiel dans des
périodes de durcissement comme ça, parce qu’on est un petit peu, comment
est-ce qu’on pourrait dire, un barrage entre les personnes, et, qui sont
65
So etwa das Engagement in UNHCR capacity-building Programme in Marokko (Langthaler
2009: 23).
66 Dies betrifft vor allem die Solidaritätsbewegungen im Falle der sans-papiers (Langthaler 2009:
25).
Seite 92
victimes de cette politique, au niveau des instances de décision, puisque on
peut essayer d’être leur porte-parole, de par exemple, c’est tout le travail
qu’on fait, dans l’accès aux droits, parce qu’il arrive souvent que les
préfectures disent ‘non, non, non, vous n’avez pas le droit de déposer l’asile’
alors que, selon la loi existante, rien ne s’y oppose. On rappelle la préfecture à
la loi, en fait, en quelque sorte. S’il n’y avait pas ces associations, si les gens
étaient tout seul, sans aide, je ne sais vraiment pas comment ils pourraient y
arriver.67 (ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 187-196)
Besondere Bedeutung kommt der Mobilisierungskraft der sogenannten sans-
papiers Bewegung zu. Ist bereits Anfang der 1970er Jahre schon über „Irreguläre“
diskutiert worden, so war doch die Besetzungen der Kirchen Saint-Ambroise und
Saint-Bernard ein Wendepunkt im Hinblick auf die Erregung öffentlicher
Aufmerksamkeit, die Thematisierung des Themas in den französischen Medien
und insbesondere in Hinblick auf die Unterstützung der sans-papiers, sowie die
Protestmobilisierung.68
(vgl. Ludwig 2007: 66) Die Selbstorganisation von
irregulären MigrantInnen in sans-papiers-Kollektiven ist in Frankreich soweit
organisiert, dass etwa die französische MigrantInnen-Organisation GISTI (groupe
d’information et de soutien des immigrés) zahlreiche Adressen von solchen
Kollektiven – unter dem Einwand nicht alle auflisten zu können – auf ihrer Website
anbieten. Die großen Menschenrechts-, MigrantInnen-, sowie Asylorganisationen
wie beispielsweise ASTI (Association Havraise de Solidarité et d’Échanges avec
tous les immigrés), Cimade, LDH (Ligue des droits de l’homme), oder MRAP
(Mouvement contre le Racisme et pour l’Amitié entre les Peuples) unterstützen,
auch über ihre Regionalstellen, die weitere Vernetzung der Kollektive. (vgl. GISTI
2010: o.S.)
67
Zu Deutsch: Also, ich denke, dass es sehr wichtig ist, und umso mehr essentiell, in Zeiten der
Verschärfung wie dieser, weil man ein wenig, wie könnte man sagen, eine Art Sperre zwischen den
Personen ist, und, die Opfer dieser Politik sind, auf Ebene der Entscheidungsinstanzen, da man
versuchen kann ihr/e SprecherIn zu sein, zum Beispiel, das betrifft die gesamte Arbeit die wir
machen, im Bereich des Zugangs zu Rechten, weil es oft vorkommt, dass die Präfekturen sagen
‘nein, nein, nein, Sie haben kein Recht Asyl anzusuchen‘, obwohl, dem existierenden Gesetz
entsprechend, nichts dagegen spricht. Wir erinnern die Präfektur, eigentlich, an das Gesetz,
gewissermaßen. Wenn es diese Organisationen nicht gäbe, wenn die Leute ganz allein wären,
ohne Hilfe, wüsste ich wirklich nicht, wie sie dahin kommen würden.
68 Hierzu mehr in Kapitel 3.4.2 Soziale Bewegungen und Regularisierung
Seite 93
3.4.2 Soziale Bewegungen und Regularisierung
Regularisierungsmaßnahmen betreffend irreguläre MigrantInnen69 in Frankreich
haben während der 1990er Jahre ihren Charakter geändert. Betrafen diese in den
1980er Jahren eher noch zuvor angeworbene ArbeitsmigrantInnen, vervielfältigte
sich das Spektrum der Zielgruppen in den Folgejahren. Ab den 1990ern wurden
AsylwerberInnen als eine der wichtigsten Gruppen in Verbindung mit der
Bekämpfung irregulärer Migration70 angesehen. Eine große Zahl abgelehnter
AsylwerberInnen und solche, die von einer normalen Asylprozedur
ausgeschlossen sind (etwa durch verkürzte Verfahren) blieben und bleiben folglich
als de-facto-Flüchtlinge in Frankreich. Einschätzungen zufolge verlässt lediglich
ein geringer Anteil dieser nach einer Negativentscheidung das Land. (Sohler 2008:
1ff.) Die Angabe exakter Zahlen illegaler MigrantInnen in Frankreich ist jedoch
schwer festzulegen, weshalb Daten diesbezüglich, je nach aktuellem politischem
Diskurs und gewünschter Medienwirkung, oftmals unterschiedlich angegeben
werden. (Rey 1997: 38f)
Regularisierung 1981
Anfang der 1980er lag ein Schwerpunkt der sozialistischen Regierung in der
Legalisierung irregulärer MigrantInnen. So wurden 1981 rund 130.000 Irreguläre –
hauptsächlich ArbeitsmigrantInnen (Egre/Henry 2007: o.S.) – die vor dem 01.
Januar 1981 illegal eingereist waren mit der Richtlinie vom 11. August rückwirkend
legalisiert. (Silverman 1994: 69) Diesen kollektiven Regularisierungsmaßnahmen
unter Präsident Mitterrand ging starker gesellschaftlicher Druck durch politische
Proteste und Mobilisierung voraus. Somit wurde unter anderem mittels der
Proteste, sowie Hungerstreiks seitens der MigrantInnen die punktuelle
69 Migranten/innen befinden sich grundsätzlich dann in einer irregulären Situation, wenn sie das
Land ohne Einreiseerlaubnis betreten haben (als TouristIn, StudentIn, AsylwerberIn,
SaisonarbeiterIn, o.ä.), oder die Einreise zwar mit offizieller Erlaubnis erfolgte, der/die MigrantIn
aber aus verschiedene Gründe „irregulär“ wurde (Auslauf der Aufenthaltserlaubnis, fehlende
Erneuerung der Erlaubnis, Verlust der Erlaubnis wegen Änderung der Bedingungen, negativer
Entscheid über ein Asylverfahren, etc.) (Sohler 2008: 1).
70 Das Jahr 2002 stellt auch hier eine bedeutende Schnittstelle dar: seit der UMP-Regierung 2002
wird irreguläre Migration vornehmlich als Sicherheitsproblem wahrgenommen und
dementsprechend gehandhabt (Sohler 2008: 2).
Seite 94
Regularisierung von 1981 erreicht. Zusätzliche Unterstützung fanden diese durch
die Druckmachung von Pro-Regularisierungsgruppen. (Sohler 2008: 12)
Regularisierung 1991
Die Maßnahmen gegen die Überforderung des französischen Asylsystems Ende
der 1980er Jahre, sowie der dabei vermehrte Einsatz einer stark beschleunigten
Bearbeitung von teils noch offenen (Langzeit-)Asylverfahren und die dadurch
erhöhte Zahl der Ablehnungen von AsylwerberInnen mündete 1991 in einer
Protestmobilisierung abgelehnter AsylwerberInnen und MigrantInnen, sowie
Asylrechtsvereinen. (Sohler 2009: 20) Landesweit wurde mittels Hungerstreiks
protestiert, in Paris fand ein fünfzigtätiger Hungerstreik statt (Laubenthal 2006:
62).
In Folge der zahlreichen Protestbewegungen veröffentlichten der damalige Sozial-
und Integrationsminister Jean-Louis Bianco und Innenminister Philippe Marchand
(PS) am 19. Juli 1991 ein Rundschreiben zur begrenzten kollektiven
Regularisierung aus „humanitären Gründen“. Genauer betrifft das Rundschreiben
LangzeitasylwerberInnen, die ihren Antrag vor dem 01. Januar 1989 gestellt
hatten und eine Anstellungsmöglichkeit, oder einen Arbeitsvertrag nachweisen
konnten. (Egre/Henry 2007: o.S.) Die Maßnahmen von 1991 betrafen 14.000
Menschen (Laubenthal 2006: 62).
Regularisierung 1997/1998
Im März 1996 entstand in Frankreich abermals eine soziale Bewegung, die die
Legalisierung irregulärer MigrantInnen forderte. Ausgangspunkt dafür war die
Besetzung der Kirche Saint-Ambroise in Paris durch 300 afrikanische
MigrantInnen. Wenige Tage darauf wurde die Kirche geräumt, woraufhin die
MigrantInnen nach diversen anderen Besetzungen und Räumungen schließlich
am 28. März 1996 die Kirche Saint-Bernard besetzten. Diese wurde nach zwei
Monaten letztendlich ebenfalls geräumt. Die Räumung der Kirche Saint-Bernard
Seite 95
löste in ganz Frankreich Mobilisierungsbewegungen (im Juli zählte man an die 16
Unterstützungskollektive),
Versammlungen,
Demonstrationen,
sowie
Hungerstreiks seitens der sans-papiers aus. Die anfänglichen Forderungen waren
Papiere für alle und die Regularisierung der irregulären MigrantInnen bei einer
einheitlichen Stelle. (Laubenthal 2006: 54f.) Dennoch wurden letztendlich nicht alle
sans-papiers von der Regierung Jospin pauschal in der Regularisierung inkludiert
(Aden 2004: 66).
Die Proteste und Unterstützungsaktionen rund um die Besetzungen von Saint-
Ambroise und Saint Bernard zählen in Frankreich zu den signifikantesten in
diesem Bereich – beeindruckend war vor allem die Heterogenität, sowie der hohe
Vernetzungs- und Kooperationsgrad der Bewegung. Die Hauptakteure waren jene
der sans-papiers-Bewegung, der Anti-Rassismus-Bewegung, der Partei Ligue
Communiste Révolutionnaire (LCR) aus der extrême gauche, sowie bekannte
Persönlichkeiten. (Laubenthal 2006: 66) Zugleich war es die Bewegung von 1996,
welche den Begriff der sans-papiers zu einem allgemein bekannten und
angenommenen machte. Dementsprechend werden betroffene MigrantInnen
durch einen Identitätsbegriff charakterisiert, der über „Papiere“ festgelegt wird.
Währenddessen werden der Begriff des clandestin (Staatenlose/r), sowie
Disqualifikationen als illegal oder kriminell zurückgeschoben. (Ludwig 2007: 70)
Die Durchführung des (doch sehr selektiven) Regularisierungsprogramms von
1997-1998 durch Jospin ist im Kontext des Wahlerfolg der sozialistischen
Regierung, die bereits zuvor eine Reform im Migrationsbereich basierend auf dem
Bericht Patrick Weil’s ankündigten, zu verstehen. In diesem Zusammenhang und
aufgrund der sans-papiers-Bewegung wurde von der Regierung Jospin schließlich
eine kollektive Regularisierung durchgeführt. Die Kriterien der
Regularisierungsmaßnahmen richteten sich diesmal nicht primär an Arbeit,
sondern hauptsächlich an das Vorliegen familiärer Bindungen (Egre/Henry 2007:
o.S.). Jedoch wurden ebenso Personen aus menschenrechtlicher Sicht mit
einbezogen, so auch Asylsuchende, die im Falle einer Abschiebung in ihrem
Heimatland Gefahr drohte. (Sohler 2008: 13) Von den 143.000 gestellten Anträgen
auf Regularisierung erhielten letztendlich 80.000 Ansuchende einen positiven
Bescheid (Aden 2004: 66).
Seite 96
Bei der Erstellung des Regularisierungsprogramms waren das Innenministerium
zusammen mit dem Sozial- und Arbeitsministerium zuständig. Währenddessen
blieben NGOs – welche Jospin um die Möglichkeit der Mitarbeit bezüglich der
Regularisierungskriterien baten – vom Prozess ausgeschlossen. (Sohler 2008: 13)
Allerdings fand eine Evaluierung des Regularisierungsprogramms durch NGOs im
Migrationsrechtsbereich statt, wobei die gesellschaftspolitischen Akteure primär
die Exklusivität des Programms auf familiäre Bindungen beklagte. Wichtige
Zielgruppen, wie alleinstehende ArbeiterInnen und AsylwerberInnen wären trotz
ihres langen Aufenthalts und ihrer Integration in Frankreich vernachlässigt worden.
(ebd.: 19) Auf der anderen Seite, beklagte die auf die Regierung unter Jospin
folgende UMP-Regierung dessen Regularisierungsmaßnahmen, welche zu
erhöhter irregulärer Zuwanderung angetrieben hätten (Sohler 2009: 22).
Regularisierung 2006
Die im Jahr 2006 durchgeführten Regularisierungsmaßnahmen71
zielten
vornehmlich auf Kinder bzw. auf Familien mit in Frankreich bereits eingeschulten
Kindern ab. Aber auch abgelehnte AsylwerberInnen hatten das Recht einen
Antrag zu stellen. (Sohler 2009: 55) Der Regularisierung durch Innenminister
Sarkozy gingen mehr als zwei Jahre soziale Mobilisierung durch das Réseau
Education sans Frontières (RESF) voraus. Auch die öffentliche Meinung
gegenüber Abschiebungen von Familien, beeinflusst durch die Aktionen der
gesellschaftspolitischen Akteure, war maßgeblich für die beiden Regularisierungs-
Rundschreiben. (Egre/Henry 2007: o.S. ; o.V. 2006: o.S.)
Bereits im Juni 2004 versammelten sich Lehrende, Erziehungspersonal, Eltern
von Schülern, Vereine und Gewerkschaften, sowie Organisationen im
Menschenrechtsbereich, um schließlich das RESF zugunsten von eingeschulten
sans-papiers zu gründen. Gemeinsam riefen sie weitere Lehrende, Eltern und
deren Kinder und das Bildungspersonal dazu auf, sich zu organisieren um für die
71 Es handelte sich genauer um zwei Aktionen durch ein Rundschreiben vom 31. Oktober 2005 und
vom 13. Juni 2006 (Sohler 2009: 55).
Seite 97
Regularisierung einzutreten. (RESF 2004: 1) So schrieb das RESF in ihrem ersten
offiziellen Aufruf zur Mobilisierung:
Il est du devoir des enseignants, des personnels des établissements scolaires,
des élèves eux-mêmes et de leurs parents mais aussi des associations
(parents d’élèves, défense des droits de l’homme, anti-racistes) et des
organisations syndicales et autres d’agir pour tirer ces jeunes de la situation
qui pourrit leur vie. Agir pour les élèves concernés eux-mêmes, déjà souvent
malmenés par des existences chaotiques : exilés, ayant parfois perdu un de
leurs parents et traversé nombre d’épreuves. Il ne faut pas ajouter aux
tragédies que sont les biographies de certains d’entre eux l’angoisse d’être
expulsés d’un pays où ils avaient cru trouver un refuge.72 (ebd.: 1f.)
Neben dem RESF spielten vor allem MigrantInnenvertreter und
Rechtsberatungsstellen, insbesondere die Cimade, eine signifikante Rolle in der
Durchsetzung des Regularisierungsprogramms73 (Sohler 2008: 23). Von den
30.000 Ansuchen wurden schließlich 6.924 positiv beschieden. Daraufhin
kritisierten diverse Menschenrechtsorganisationen und vor allem die Cimade eine
Regularisierung, die nach dem Kriterium einer „loterie-duperie“74 gerichtet sei,
sowie die unterschiedliche Auslegung der Regularisierungskriterien in den
Präfekturen. (Egre/Henry 2007: o.S.)
Ferner, galt von 1998 bis 2006 die von der Regierung Jospin eingeführte
Bestimmung, dass irreguläre MigrantInnen einen Rechtsanspruch auf
Regularisierung haben, wenn sich diese mindestens zehn Jahre kontinuierlich in
Frankreich aufhielten (Sohler 2009: 23). Zeitgleich mit den
Regularisierungsmaßnahmen wurde mit dem neuen Migrations- und Asylgesetz
vom Juli 2006 (Loi Sarkozy II) eine außerordentliche Aufenthaltsgenehmigung für
MigrantInnen eingeführt. Diese wäre, laut Cimade, symptomatisch für ein System,
in dem Regularisierung nicht mehr als Recht, sondern als Gefallen angesehen
72
Zu Deutsch: Es ist die Pflicht der Lehrenden, des Personals von Schuleinrichtungen, der
SchülerInnen selbst und derer Eltern, aber auch der Vereine (Eltern von SchülerInnen,
Verteidigung der Menschenrechte, Anti-Rassismus) und der gewerkschaftlichen Organisationen
und anderer, zu handeln, um die Jungen aus ihrer Situation zu verhelfen, die ihr Leben verdirbt. Zu
handeln, für die betroffenen SchülerInnen selbst, denen bereits oft durch chaotische Existenzen
schlecht zugesetzt wurde: vertrieben, oftmals schon ein Elternteil verloren und eine Zahl an Hürden
überstanden. Es ist nicht nötigt, den Tragödien – die die Biographie einiger unter ihnen darstellen –
die Angst eines Landes verwiesen zu werden, von dem sie dachten es wäre eine Zuflucht,
hinzuzufügen.
73 Auch in der Umsetzung unterstützten diese die Ansuchenden bezüglich der Ausarbeitung ihrer
Anträge (Sohler 2008: 23).
74 Zu Deutsch: „Lotterie-Täuscherei“
Seite 98
werden würde. Demnach können Präfekturen, in Sonderfällen, aus humanitären
Gründen einen Aufenthaltstitel bewilligen, der zuvor ein Aufenthaltstitel mit vollen
Rechten gewesen wäre. (Cimade 2009: 41f.)
3.4.3 Délit de solidarité
Seit 1945 existiert in der französischen Gesetzgebung, durch die Verordnung vom
2. Oktober 1945 über die Einreise und den Aufenthalt von Fremden in Frankreich
die Möglichkeit, jene Personen zu bestrafen, die die Einreise, den Aufenthalt oder
die Zirkulation von irregulären MigrantInnen (versuchen zu) erleichtern
(Barthélémy et al. 2009: 304). Im CESEDA ist dementsprechend im Art L622-1
festgeschrieben: „Toute personne qui aura, par aide directe ou indirecte, facilité ou
tenté de faciliter l'entrée, la circulation ou le séjour irréguliers, d'un étranger en
France sera punie d'un emprisonnement de cinq ans et d'une amende de 30 000
Euros."75 (CESEDA 2010: Art L622-1).
Ursprünglich wurde diese Bestimmung festgesetzt, um gegen Netzwerke, die
Drittstaatangehörigen helfen, illegal französischen Boden zu erreichen,
vorzugehen. Heute hat sie allerdings ein so breites Anwendungsfeld, dass sie
auch Privatpersonen, Menschen, die Familienangehörigen helfen und im Falle
auch Organisationen, die im Migrations- und Asylbereich tätig sind, treffen. Mit der
Immigrations- und Asylrechtsreform von 2003 wurden Sanktionen diesbezüglich
verstärkt, weshalb diverse Organisationen begannen von einem délit de
solidarité76 zu sprechen, um somit auf die Missstände und die Verfolgung von
Personen und Organisationen, die irregulären MigrantInnen helfen, aufmerksam
zu machen. (Carrère/Baudet 2004: o.S.) Frau Simone Fluhr kritisiert demnach,
dass diese Bestimmung mehrmals – vor allem seit der Einrichtung der
Abschiebungsquoten – gegen Helfer aus der Zivilbevölkerung gerichtet wurden:
„Cette loi, on a vue à plusieurs reprises, était utilisé pour des personnes de la
75
Zu Deutsch: Jede Person die durch direkte oder indirekte Hilfe, die irreguläre Einreise,
Zirkulation, oder den (irregulären) Aufenthalt eines Fremden in Frankreich erleichtert hat, oder
versucht hat zu erleichtern, wird mit einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren und einem Bußgeld von
30.000 Euro bestraft.
76 Zu Deutsch: Solidaritätsdelikt
Seite 99
société civile qui étaient, qui étaient là pour aider des gens pour des raisons
proprement humanitaires.“77 (ebd., 357-359).
Die Problematik des weiten Anwendungsbereichs der Vorschrift entsteht vor allem
durch das Fehlen einer genaueren Bestimmung des Delikts, die festlegen würde,
dass ein solcher nur dann vorliegt, wenn die Hilfe zum irregulären Aufenthalt von
MigrantInnen aus lukrativen Gründen getätigt wird (Barthélemy et al. 2009: 304).
Währenddessen sieht die EU-Richtlinie vom 28. November 2002 zur Regelung der
irregulären Einreise, der Zirkulation und des Aufenthalts vor, dass die
Mitgliedstaaten Sanktionen bezüglich der Hilfe von irregulären MigrantInnen in
Fällen, in welchen ein lukratives Ziel vorliegt, vorsehen können: « quiconque aide
sciemment, dans un but lucratif, une personne non ressortissante d’un État
membre à séjourner sur le territoire d’un État membre en violation de la législation
de cet État relative au séjour des étrangers »78 (Sedrine et al. 2009: 15). Jedoch
bleibt es der Richtlinie nach jedem Mitgliedstaat offen, ob in einem bestimmten
Fall – « dans les cas où ce comportement a pour but d’apporter une aide
humanitaire à la personne concernée »79 – Sanktionen angewandt werden (ebd.:
15). In der französischen Gesetzgebung ist allerdings immer noch, trotz
europäischer Richtlinie, weder ein lukratives Ziel erforderlich, noch ist die Klausel
zur humanitären Hilfe und dementsprechende Ausnahmeregelungen erwähnt.
Begründet wurde dies vom zuständigen Berichterstatter in der
Nationalversammlung mit dem Wunsch, dass das Sanktionsprinzip bezüglich der
Hilfe der Einreise oder des Aufenthalts von irregulären MigrantInnen keinen
Ausnahmen unterstehen soll, die die Reichweite oder Effizienz der französischen
Bestimmung einschränken könnte. (Carrère/Baudet 2004: o.S.)
77 Zu Deutsch: Dieses Gesetz, das hat man mehrmals beobachten können, wurde an Personen
aus der Zivilgesellschaft angewandt die da waren, die da waren, um Leuten aus rein humanitären
Gründen zu helfen.
78
Zu Deutsch: jegliche wissentliche Hilfe, die einem lukrativen Ziel folgt, zum Aufenthalt einer
Person, die nicht aus einem Mitgliedstaat kommt, im Territorium eines Mitgliedstaates, unter
Verletzung der Gesetzgebung betreffend den Aufenthalt von Fremden dieses Staates.
79
Zu Deutsch: im Fall, dass das Handeln die Bereitstellung humanitärer Hilfe an die betroffene
Person zum Ziel hat.
Seite 100
Indes wurden in den letzten Jahren Kontrollen und Strafen erweitert, hauptsächlich
durch die Reform der Ordonnance von 1945 durch das Loi Sarkozy im Jahr 2003
und die damit verbundene Reform asylrechtlicher Bestimmungen. Primär fand
dabei eine geographische Ausdehnung der Kontrollen und Strafen durch den 21.
Artikel der Ordonnance statt: Personen die sich in oder außerhalb von Frankreich
befinden, können seither strafrechtlich Verfolgt werden, wenn sie Fremden bei der
Einreise, der Zirkulation oder beim Aufenthalt im Territorium der Staaten, die das
Protokoll gegen unerlaubten Verkehr von MigrantInnen unterzeichnet haben,
helfen. Auch zusätzliche Strafen wurden erweitert. So kann der Aufenthalt im Land
untersagt, oder die Fahrerlaubnis bis zu fünf Jahren entzogen werden (zuvor
waren es drei Jahre). Ebenso ist die Konfiszierung von Gütern der Verurteilten
möglich. (ebd.: o.S.)
Frau Simone Fluhr bemerkt hierbei auch vermehrte Einschnitte in Rechte und
Freiheiten von Asylrechts-NGOs, die die gegebene Asylpolitik kritisieren: „[…] pour
la première fois on voit des menaces pesant sur les associations qui témoignent et
dénoncent, tout cela.“80 (ExpertInneninterview Fluhr 2010, Zeile 240-241). Das
Vorgehen gegen die Helfer bzw. Organisationen im Migrations-, Asyl- und
Menschenrechtsbereich, zeigt sich nicht nur anhand des indirekten Drucks,
ausgelöst durch finanzielle (Nicht-)Unterstützung von Aufnahme- und
Unterkunftstrukturen, sowie Vereinen im Bereich der Rechtshilfe. Ebenso trifft die
Vorschrift in Art L622-1 Einzelpersonen, die sich solidarisch für irreguläre oder von
Abschiebung betroffene MigrantInnen engagieren und in der Folge gerichtlichem
Druck ausgesetzt werden. (vgl. Cimade 2009: 60) Hinsichtlich der
Strafverfolgungen und Strafen gegenüber Einzelpersonen, die sich für irreguläre
MigrantInnen einsetzten, existieren zahlreiche Fälle und Berichte. Diese
beschreiben etwa ein rechtliches Vorgehen gegen Personen, die sich bei
Rückführungsflügen verbal gegen die Umgangsweise der Organe gegenüber den
MigrantInnen beschweren, sich verbal gegen die Abschiebung engagieren, oder
sich für einen gewaltfreien Umgang der Organe gegenüber den MigrantInnen
einsetzen. Allerdings wurden auch in entsprechenden Organisationen tätige
Personen – obwohl diese, sowie auch Familienangehörige von irregulären
80
Zu Deutsch: […] zum ersten Mal sieht man Drohungen gegen die Organisationen, die das alles
bezeugen und denunzieren.
Seite 101
MigrantInnen, von den Bestimmungen in Art L622-1 ausgenommen sind –
gerichtlich aufgrund „solidarischer Praktiken“ verfolgt. (vgl. Barthélemy et al. 2009:
304-307; Cimade 2009: 60)
Besonders exemplarisch ist in Hinblick auf Hilfeleistungen der Fall Calais, wo nach
der Schließung des Lagers Sangatte, Organisationen und Einzelpersonen nun
vermehrt darum bemüht sind, den dortigen irregulären MigrantInnen zu helfen.
Calais gilt deshalb als Sonderfall, weil es gewissermaßen als Transitland
(Ausgangspunkt für die Weiterreise nach Großbritannien) angesehen werden kann
und ein wichtiger Knotenpunkt für irreguläre MigrantInnen ist. Da mit der
Auflösung des Lagers viele obdachlos wurden, wird mittels Volksküche,
Beherbergungen bei Privatpersonen und auch Benutzung von Privatkonten für
Transaktionen von Familienangehörigen der MigrantInnen (da die meisten
irregulären MigrantInnen über kein Konto verfügen) ausgeholfen. (Carrère/Baudet
2004: o.S.; Sedrine et al. 2009: 69f) Die Konsequenzen für sogenannte
solidarische Vergehen sind zumeist Geldstrafen oder/und Polizeigewahrsam von
24 bis zu 48 Stunden. Des Öfteren beziehen sich die Sanktionen offiziell nicht auf
Art L622-1, sondern den Engagierten wird etwa eine Beleidigung der Staatsorgane
vorgeworfen. (vgl. Barthélemy et al. 2009: 304f.)
Der Immigrationsminister Eric Besson dementierte demgegenüber die Existenz
eines délit de solidarité: „il n’y a pas de bénévole, d’humanitaire, ou de particulier
qui ait, en France, en soixante-cinq ans, une seule fois été condamné pour avoir
aidé, hébergé, nourri, conduit dans sa voiture, etc. un étranger en situation
irrégulière81 (Besson 2009, in: C.B. 2009: o.S.). Im Gegenzug kontern NGOs wie
die Cimade, Emmaüs und France terre d’asile, dass wenn der Art L622-1 keine
Anwendung fände, dieser doch entfernt werden sollte (C.B. 2009: o.S.).
Zudem findet seit 2003 eine Mobilisierung gegen den délit de solidarité statt:
Anlässlich der Diskussion des loi Sarkozy im Parlament, unterzeichneten 354
Organisationen und 20.000 Einzelpersonen das Manifeste des délinquants de la
81
Zu Deutsch: Es gibt keinen freiwillige/n HelferIn, keine/n HilfestellerIn und keine Privatperson,
der/die in Frankreich in 65 Jahren jemals verurteilt wurde, weil er/sie einer/m Fremden in
irregulärer Situation geholfen, untergebracht, ernährt, im Auto mitgenommen hat, etc.
Seite 102
solidarité.82 (Barthélemy et al. 2009: 304) Die Unterzeichner des Manifestes
bestätigen darin, entsprechend des resümierenden Satzes:
Nous déclarons avoir aidé des étrangers en situation irrégulière. Nous
déclarons avoir la ferme volonté de continuer à le faire. De même que nous
réclamons un changement radical des politiques à l’égard des immigrés et des
étrangers, nous réclamons le droit à la solidarité, contre la logique des États.
Si la solidarité est un délit, je demande à être poursuivi(e) pour ce délit.83
(Manifeste des délinquants de la solidarité 2003: 2)
Quelle: Sedrine et al. 2009, 1
82 Zu Deutsch: Manifest der Straftäter der Solidarität;
Die Unterzeichnung solcher Manifeste durch Organisationen, Einzelpersonen, Berühmtheiten und
Intellektuelle ist in einer langjährigen französischen Tradition einzubetten. Beispiele hierfür sind das
Manifest der „343 saloppes“ von 1971 (die für das Recht auf Abtreibung eintraten) oder der „appel
des 66 cinéastes“ (die gegen die Vorschrift eintraten, nach welcher Personen die ein
Unterkunftszertifikat unterzeichnet haben, die Präfekturen über die Abreise des Fremden
informieren müssen). (Carrère/Baudet 2004: o.S.)
83
Zu Deusch: Wir bekunden, Fremden in irregulärer Situation geholfen zu haben. Wir bekunden,
den strikten Willen zu haben, damit weiterzumachen. Ebenso fordern wir eine radikale Änderung
der Politik gegenüber EinwanderInnen und Fremden, wir fordern das Recht auf Solidarität, gegen
die Logik der Staaten. Wenn die Solidarität ein Delikt ist, verlange ich für diesen Delikt verfolgt zu
werden.
Seite 103
Quelle: Cimade 2009, 60
Seite 104
4. Exkurs: Versuch zur Erklärung der französischen Asylpolitik
und ihrer Spezifika aus drei theoretischen Perspektiven
In diesem theoretischen Kapitel der Diplomarbeit, werden drei unterschiedliche
theoretische Ansätze, deren Ansprüche und Quintessenzen – ausgehend von
jeweils einem spezifischen Werk des jeweiligen Verfassers – dargestellt. Bei den
drei Ansätzen handelt es sich um folgende Schulen, Autoren und ausgewählte
Werke84:
• Historische Soziologie
Paul Pierson (2004): Politics in time. History, institutions, and social
analysis
• Strukturalismus/Poststrukturalismus
Michel Foucault (1997): Il faut défendre la société. Cours au Collège de
France. 1976
• Nouvelle Droite
Alain de Benoist (1999): Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000
Anschließend werden die Erkenntnisse über die französische Asylpolitik, die in
Kapitel 3 gewonnen wurden, anhand der Thesen und Erklärungsansätze dieser
Theorien interpretiert und erläutert. Diese Vorgehensweise dient dazu, den Inhalt
der Diplomarbeit, mit dem Fokus auf Spezifika der französischen Asylpolitik und -
gesetzgebung, auf unterschiedliche Arten betrachten und erklären zu können und
somit auf unterschiedliche Erkenntnisse und mögliche Ursachen zu stoßen.
Abschließend soll eine kurze Bewertung der Eignung der besprochenen Ansätze
für das vorliegende Themengebiet gegeben werden.
84 Die Werke der Autoren wurden nach Einschätzung der Eignung dieser für das in der
Diplomarbeit erforschte Themengebiet ausgewählt. Politics in time wurde gewählt, um in
historischer Weise auf die Entwicklung der französischen Asylpolitik eingehen zu können; Il faut
défendre la société, um die Beziehung Staat – AsylwerberInnen betrachten zu können; und
Manifest. Die Nouvelle Droite des Jahres 2000, um die Erörterung der Einflussnahme theoretischer
Denkmodelle der Nouvelle Droite auf die französische Asylpolitik zu ermöglichen.

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